Warum hat Kandinsky uns verlassen?

Stellen wir uns vor, wir stünden vor Picassos „Guernica“, Dürers „Großes Rasenstück“, Monets „Impression – Sonnenaufgang“ oder Munchs „Der Schrei“. Oder wir versuchen, uns in Ägypten im Tempel von Abu Simbel Ramses II., die Schlacht von Kadesch und das hethitische Heer vorzustellen. Vielleicht betrachten wir auch in Wien im Naturhistorischen Museum gemeinsam mit feministischer Kunst, die sie in ein doppelseitiges Bild verwandelt, die Venus von Willendorf. Hat der Künstler das dargestellt, was er gesehen hat, oder das, was er wusste? Erzählt uns das Werk eine heilige Geschichte, oder lädt es uns zu tiefer Kontemplation ein? Reizt es uns auf, oder beruhigt es? Was ist sein Gegenstand und mit welchen Techniken wurde es auf die Leinwand gebracht? Auf all diese Fragen lässt sich eine Antwort finden.

Wenn wir jedoch im Tate Museum in London auf Kandinskys Gemälde „Kosaken“ stoßen, lassen sich dieselben Fragen nicht mit derselben Entschlossenheit stellen. Das Bild suggeriert zwar einen figürlichen Inhalt, aber nur andeutungsweise. Man spricht von Kuppeln, Lanzen und Pferden – doch das Erkennen fällt schwer. Auch wenn wir die Leuchtkraft der Farben wahrnehmen, bedarf es für ihr Verständnis eines Rückgriffs auf Kandinskys Schrift „Über das Geistige in der Kunst“. Kurz gesagt: Hätten wir keinen Museumsführer an unserer Seite und den Titel des Bildes nicht gelesen, wäre es schwer, die dynamische Komposition, die kühnen Farben und den starken Kontrast mit der kämpferischen Natur und überschäumenden Leidenschaft der Kosaken in Verbindung zu bringen. Der Maler selbst hatte dies vermutlich auch nicht im Sinn. Denn Themen waren für die Malerei vor der Moderne von Bedeutung. Kandinsky jedoch wollte keine Geschichte erzählen, sondern eine musikalische Komposition erschaffen, die eine seelische Schwingung hervorruft. Wenn die erwartete innere Resonanz entstand, hatte das Werk seinen Zweck erfüllt.

Ein Werk, das sich von den Referenzen der äußeren Welt befreit hat und im Inneren des Menschen ein neues Netz an Bedeutungsbezügen findet, führt uns zu folgender Erkenntnis: Kunst muss weder Abbild noch Darstellung sein. Formen dehnen sich aus und ziehen sich zusammen wie in unseren Träumen, Farben schwimmen in einer nulldimensionalen Sphäre und besetzen den gesamten Raum. Gelb wärmt, indem es explosionsartig an die Oberfläche tritt. Blau lähmt, während es ins Unendliche ruft. Weiß ist schöpferische Kraft, Violett Melancholie, Grün Gleichgewicht, Grau Unentschlossenheit. Die Seele gleicht einem Klavier mit vielen Saiten, das Auge ist sein Hammermechanismus.

Indem sich das Werk von den äußeren Weltbezügen löst, vermag es vielleicht unmittelbar die Seele zu erreichen. Doch diese Immateriellheit birgt ein Risiko: So durchdacht, mit Vorzeichnungen und Skizzen vorbereitet es auch sein mag, kann es leicht zu einem Krawatten- oder Teppichmuster verkommen. Dies würde bedeuten, dass es seine Verbindung zum Betrachter – und damit seinen künstlerischen Wert – verliert. Aus diesem Grund hielt Picasso die abstrakte Kunst für unmöglich und hätte „Kosaken“ wohl als „eine Geschichte, die sich selbst vergessen hat“ beschrieben. Denn ein Künstler muss immer von einer visuellen oder gedanklichen Wirklichkeit ausgehen – ohne sie ganz zu verlassen. Hat Kandinsky das geschafft? Mit anderen Worten: Sind es Kosaken, die sich in diesem Gemälde befinden, oder lediglich Formen, die wie ihre Erinnerung vibrieren?

Kandinsky gab sein Urteil über die repräsentative Funktion der Kunst auf, nachdem er eine Ausstellung der französischen Impressionisten im Jahr 1895 in Moskau besucht hatte. Vielleicht waren die ohnehin schwer zugänglichen Themen in einem Kunstwerk gar nicht so wichtig, wie man bisher dachte. Die Wirkung der Kunst konnte nicht dort liegen. Auch die im Stil des Art Nouveau geschaffenen Menschen- und Landschaftsdarstellungen, die er mit kräftigen Konturen und leuchtenden Farben wiedergab, gab er am Tag nach einer Begegnung mit einem seiner eigenen Gemälde auf – einem Bild, das er zunächst nicht einmal erkannte. Das Bild war von außergewöhnlicher Schönheit, leuchtete geradezu. Doch die Figuren waren fremd – für einen Moment. Das bedeutete: Die Möglichkeiten von Farbe und Form reichten über die bloße Darstellung hinaus. Aber warum der Bruch?

Kunsthistoriker sind schnell bereit, Kandinskys Verzicht auf Figuren mit der raschen Urbanisierung Europas nach der Industriellen Revolution, dem plötzlichen Zerfall traditioneller Formen, der Entfremdung des Menschen von Natur und sich selbst sowie dem chaotischen Klima der Februar- und Oktoberrevolution in Verbindung zu bringen. Die Farbe dieser Welt wäre auf Kandinskys Palette grau. Grau bedeutet endloses Zögern, Schweigen, Hoffnungslosigkeit – es trägt kein Leben in sich und kann daher auch keines schenken, es ist stets neutral. Deshalb wird es von jeder vorbeiziehenden Farbe zum Verstummen gebracht. Wenn Kandinskys Welt tatsächlich grau war, hätte er die Leinwand mit Schwarz, Weiß und Zwischentönen füllen können – so wie Picasso in „Guernica“ oder Käthe Kollwitz in ihren Serien zu Krieg und Tod. Auch damit hätte der Maler die Essenz der Darstellung infrage gestellt, den Ausdruck vereinfacht und zugleich eine politische/gesellschaftliche Botschaft vermittelt. Deshalb stellt sich erneut die Frage: Warum der Verzicht? Oder: Was bedeutet dieses stille Sprechen?

Als Adorno sagte, nach Auschwitz sei das Schreiben von Gedichten barbarisch, schwieg die Dichtung nicht – sie änderte ihre Strategie. Kafka erzählt in „Die Verwandlung“ die Geschichte eines Menschen, der sich in ein Insekt verwandelt – ohne dafür Gründe zu nennen, denn diese sind im Grunde unbekannt. Gregor denkt weiterhin wie ein Mensch, doch da die Verbindung zwischen Sprache und Denken zerbricht (oder vielleicht nie existierte), stößt er nur noch Insektenlaute aus. Diese groteske Lage drückt die psychologische und existentielle Zersplitterung des Menschen aus – eine Zersplitterung, die ebenso tragisch ist wie kriegerisches Blutvergießen.

Das Scheitern der Repräsentation versucht Beckett in einem Theaterstück darzustellen: Alle warten, aber Godot kommt nicht, und die Wirklichkeit zerfällt. Wer Godot ist und warum wir auf ihn warten, erfahren wir nie – das Subjekt löst sich auf. Wenn Becketts Figuren sprechen, hallen ihre Sätze in der Leere wider; die Sprache öffnet einen Abgrund. Die Zeit gerät aus den Fugen: Die Vergangenheit mischt sich in die Gegenwart, die Gegenwart versperrt die Zukunft:

– Was sollen wir tun?

– Warten.

– Ja, warten wir. Aber worauf warten wir?

Weder historische noch kulturelle Referenzen, weder philosophische Theorien noch theologische Erzählungen können uns aus dieser Hölle des Wartens erlösen. Das Spiel ist zu Ende, und Godot ist immer noch nicht gekommen. Denn entweder gibt es keinen Sinn – oder er wird für immer aufgeschoben.

Die gleiche Repräsentationskrise lässt sich auch in der Avantgardekunst verfolgen. Als die Welt zweimal in dasselbe Dunkel stürzte, verweigerte der Künstler seiner Zeit zunächst die Darstellung dieser Welt – und stellte dann eben diese Verweigerung dar. Zuerst verlor er seine Bilder, dann entdeckte er neue: Leere, Stille, Brüche, Verfall, Zerstörung, Nichts, Widerspruch. Adorno bestätigt diese neuen Bilder: „Kunst kann die Realität nur in ihrer Gebrochenheit ausdrücken.“ Picasso tut genau das in „Les Demoiselles d’Avignon“: Er zerlegt zunächst den Körper, entfremdet ihn – und mit ihm folgen jahrhundertelang akzeptierte ästhetische Ideale wie Schönheit, Proportion, Symmetrie, Harmonie. Dalí hingegen verzerrt in seinem berühmten Gemälde „Die Beständigkeit der Erinnerung“ die Zeit mit schmelzenden Uhren, den Raum mit einem Hintergrund, in dem Himmel und Erde verschmelzen, und die Identität mit einer amorphen Kreatur zwischen Mensch und Tier. Ebenso repräsentiert John Cage in seinem Werk „4’33’’“ – nichts. Es gibt kein Werk im Werk. Für 4 Minuten und 33 Sekunden wartet das Publikum auf den Beginn der musikalischen Darbietung – aber der Pianist schlägt keinen einzigen Ton an. Es erklingen nur Husten, Stühlerücken und Flüstern. Denn jede Bedeutung, die man auf die Bühne zu bringen hoffte, ist mit den zusammengebrochenen Reichen – Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Russland, Deutschland – untergegangen.

Die von uns als Proto-Avantgardisten bezeichneten Autoren wie Kafka sowie die im Folgenden erwähnten Avantgarde-Künstler entwickeln damit eine Sprache der Flucht. Flucht ist notwendig. Denn die Welt, geformt von zwei Weltkriegen, totalitären Regimen und intellektueller Unterdrückung, in der Millionen Menschen starben, soziale Ungleichheit und Massenhunger herrschten – diese Welt ist entsetzlich. Kafkas „Die Verwandlung“ flieht schrittweise vor den drei Grundpfeilern des westlichen Denkens: einem sinnhaften Universum, einem erkennbaren Subjekt und der Verlässlichkeit der Repräsentation. Doch sie führt nirgendwohin. Wie Wladimir und Estragon, die auf Godot warten, ohne zu wissen, wer er ist, so wissen auch wir nicht, wer sie sind. Becketts Stück ist eine Sabotage der klassischen Säulen der Existenz: Handlung, Ziel, Kontinuität, Entschlossenheit. Niemand überlebt. „Les Demoiselles d’Avignon“ zerstört die Perspektive, zerlegt den Raum, glättet die Oberfläche – und versetzt den Betrachter in Unruhe. Wahrheit ist problematisch, Wahrnehmung ist problematisch, der Körper ist problematisch, Begriffe sind problematisch. Doch das Werk diagnostiziert nur, es bietet keinen Ausweg. Die Unruhe bleibt Unruhe. Dalí will die lineare Zeitwahrnehmung auflösen – aber ersetzt sie nicht, etwa durch einen kairologischen Zeitbegriff wie bei Heidegger. Die ins Unbewusste verdrängten Objekte kehren nicht zurück. Ontologische Sicherheiten zerfallen. Kurz gesagt: Aus diesem Traum gibt es kein Erwachen. John Cage hingegen verweigert jede Repräsentation der Welt. Dabei hätte er – wie Dvořák – die „Neue Welt“ in eine sinfonische Struktur überführen können. Doch als Cage anstelle von Melodie, Tonalität und Rhythmus – den vermeintlichen Essenzen der Musik – die Welt selbst auf die Bühne bringt, manifestiert sich plötzlich die Kunst.

Kandinskys Welt ist ebenso furchteinflößend wie die der Künstler auf der Fluchtlinie. Doch „Kosaken“ liegt nicht auf dieser Linie. Die Ordnung des Gemäldes ist weit entfernt von klassischer Perspektive; es gibt keine Tiefe. Die Komposition ist fragmentiert und zerstreut. Es gibt kein Zentrum. Die Zeit ist nicht linear, sondern zirkulär. Die Figuren sind ausgelöscht und haben rhythmischen Flecken und Farbfeldern Platz gemacht – Repräsentation wurde verweigert. Und doch liegt „Kosaken“ nicht auf dieser Linie.

Die Morgendämmerung steht bevor. Der Maler kehrt mit seiner Malkiste nach Hause zurück, als er ein Bild von unbeschreiblicher Schönheit sieht. Ein Augenblick, ein Schlag, der die sinnliche Erfahrung unterbricht. Doch gleich danach verfliegt der Zauber. Das Bild gehört dem Maler selbst. Kandinsky versucht am nächsten Tag, über dasselbe Gemälde wieder zu jenem Moment vorzudringen – aber es gelingt ihm nicht. Die Objekte verschwinden nicht erneut. Eine Entscheidung wird getroffen: Das Objekt schadet dem Bild. Wenn dies die Entscheidung ist, lässt sich „Kosaken“ aus dieser Perspektive neu lesen:

Im Bild sind noch erkennbare Elemente vorhanden; Lanzenträger, die wir als Kosaken kennen, weitere Figuren, die auf Pferden zu sitzen scheinen, und eine Kuppel, die jenen in Zentralasien ähnelt… Der Künstler hat – wie Picasso es getan hätte oder eben nicht getan hat – vielleicht von einer visuellen oder gedanklichen Realität aus begonnen. Genau diese Ungewissheit, also dass wir nicht wissen, wo wir beginnen – oder ob wir überhaupt beginnen –, dass die Figuren „etwas“ nicht vollständig werden können, lädt uns ein: in ein anderes Werk im Innern des Werkes.

Wenn sich die Erzählung vom Anfang entfernt, die Farben sich von den Objekten lösen, die Formen zerstreuen und Linien zu schwingen beginnen, gelangen wir in einen Kampf jenseits des Krieges. Der Kosakenreiter ist fortan keine historische Figur mehr; er ist ein Suchender nach Wahrheit. Nicht in Sibirien oder im Fernen Osten, sondern in den abgelegenen Winkeln des eigenen Selbst. Die geworfenen Lanzen oder die schweren Nahkampfspeere stehen nicht mehr für die Unterstützung der letzten absoluten Monarchie Europas, sondern für den Kampf gegen das dichte Dunkel in unserem Inneren. Mit kleinen, aber wendigen Pferden eilen wir von einer Front zur anderen. In Wahrheit zerstreuen wir uns in geschwungenen Linien, in kreisenden Bewegungen über die gesamte Komposition. Zwischen Farben und Linien gibt es kaum Raum zur Ruhe. Figürliche Elemente verschwimmen mit abstrakten Farb- und Linienfeldern; Bekanntes vermischt sich mit Unbekanntem, Sieg mit Niederlage. Und dennoch laufen wir. Der Lauf ist ohne Rhythmus – deshalb ist die Komposition aus dem Gleichgewicht geraten.

Das zwanzigste Jahrhundert der Welt ist furchtbar. Nicht nur für Avantgardekünstler oder Kandinsky, sondern auch für uns, die wir diese Welt aus Büchern und Kunstwerken kennen. Als Malewitsch ein schwarzes Quadrat auf weißen Grund malte, verzichtete er auf Perspektive, Tiefe, Licht-Schatten, figürliche Elemente, auf alle Farben außer Schwarz und Weiß – und (obwohl er ein Quadrat zeichnete) selbst auf Symmetrie. Damit verließ er diese Welt. Zwei Jahre nach dem „Schwarzen Quadrat“ stellte Duchamp ein umgedrehtes Urinal auf einer Ausstellung in New York aus – und lehnte damit die konventionelle Definition von Kunst, die bis dahin anerkannten ästhetischen Kriterien und die Autorität selbst ab. Was er tatsächlich ablehnte, war die klassische Form, in der Kunst die Welt sichtbar machen sollte. Da sich die Welt verändert hatte, musste sich auch diese Form verändern. Malewitsch und Duchamp lehnten es ab, diese Welt darzustellen – entweder mit Ironie oder radikal. Ihre Abstraktion war eine „geometrische Abstraktion“, die „aus der Welt hervorgeht, von ihr geprägt ist und dennoch beansprucht, ihr Wesen auszudrücken“. Ob „Schwarzes Quadrat“, „Fountain“, „Die Verwandlung“, „4’33’’“ oder „Les Demoiselles d’Avignon“ – sie alle brachen auf, ohne anzukommen. Die Unruhe blieb Unruhe. Die Welt blieb am Nullpunkt stehen.

„Die Nacht, die auf den Seelen lastet,
die Hand, die den Weg zeigt,
die Hand, die ihn zerstört,
die Furcht, von der sie inspiriert wird,
die Unsicherheit des Nichtwissens,
der nicht gefundene Weg,
der verirrt gegangene Führer…“

Das zwanzigste Jahrhundert der Welt ist furchtbar – aber nicht wirklich. Nicht nur das zwanzigste, sondern alle Jahrhunderte… Furchtbar, aber nicht wirklich: Weder Kosaken, Bolschewiken noch Kirgisen existieren. Weder haben die Japaner gegen die Russen gekämpft, noch hat sich Zentralasien erhoben. Wenn wir das glauben, dann deshalb, weil die Māyā den Brahman verbirgt – oder weil wir nicht wissen, dass wir träumen.

Als Halid Ebu Ziya seiner Enkelin Rim mit den Worten „Du Seele meiner Seele“ Lebewohl sagt, sieht er vielleicht nur ein Bild im verblassten Spiegel. Kandinsky hätte Ziyas Haltung wahrscheinlich als „Ekstase“ bezeichnet. Denn dem Verlust wohnt zugleich eine Entdeckung inne. Doch um im Verlieren etwas zu finden, muss man vielleicht wie Ebu Ziya oder Kandinsky die Augen zusammenkneifen.

Wenn man das tut, verwandeln sich die Details in symbolische Accessoires, die uns hinter dem äußeren Schein zum inneren Wesen führen. Wie der kleine Kinderohrring, der sich an Ebu Ziyas Revers geheftet hat… Ein Symbol aus der verlassenen Welt. Der Gegenstand schadet dem Bild nicht mehr – er eröffnet einen Weg.

„Kosaken“ entsteht aus diesem verengten Blick, sucht das Wesen der Welt, während er sie auflöst und zerstreut. Es ist eine Art des Sehens – ein Sehen im Sehen… Ein Augenblick, ein Schlag, der die sinnliche Erfahrung unterbricht.

Er zeigt den Weg,
vertraut dem Weg,
kennt den Weg.