Wahrheit und der Nistplatz öffentlicher Intellektueller

Wenn man Donald Trump fragte, ob er Hannah Arendt kenne, würde er vermutlich mit einer flapsigen Gegenfrage wie „Konnte sie gut Golf spielen?“ ausweichen. Von seinem unmittelbaren Vorgänger im Amt des US-Präsidenten, Joe Biden, wissen wir hingegen, dass er Arendt kannte – jedenfalls durch einen Brief vom 28. Mai 1975, den er als Mitglied des außenpolitischen Ausschusses des Senats an sie schrieb. Darin erwähnt Biden, dass Tom Wicker am 25. Mai 1975 in der New York Times einen Artikel mit dem Titel „The Lie and the Image“ veröffentlicht habe, in dem wiederum auf einen von Arendt beim Boston Bicentennial Forum vorgetragenen Text Bezug genommen werde. Als Ausschussmitglied sei er sehr daran interessiert, eine Kopie dieses Textes zu erhalten, schrieb Biden. Ob Arendt ihm den Aufsatz tatsächlich zusandte, wissen wir nicht. Sicher ist jedoch, dass sie ihn im Juni 1975 in der New York Review of Books unter dem Titel „Home to Roost: A Bicentennial Address“ veröffentlichte – eine ihrer letzten Publikationen, bevor sie im November 1975 starb. Derselbe Text wurde später von Jerome Kohn in den Sammelband Responsibility and Judgement aufgenommen. Falls Biden den Aufsatz gelesen hat, darf man vermuten, dass seine Reaktion nicht weit von Trumps flapsigem Ausweichen entfernt gewesen wäre. Denn betrachtet man Bidens lange Jahre in der amerikanischen Politik, so kann man trotz liberaler und globalistischer Vorbehalte feststellen: Er war ein Meister der Imageproduktion – und hat damit auch in der Türkei viele Menschen in seinen Bann gezogen, bis heute.

Der im Titel des Aufsatzes angesprochene „zweihundertste Jahrestag“ verweist auf die zweihundertjährige Wiederkehr der amerikanischen Revolution. Auffällig ist jedoch der direkte Bezug auf Malcolm X, der 1963 auf einer Versammlung der Nation of Islam das Attentat auf Präsident Kennedy kommentierte. Er warf Kennedy vor, im Falle der Ermordung des südvietnamesischen Staatschefs Ngô Đình Diệm und dessen Bruders Ngô Đình Nhu untätig geblieben zu sein, und bemerkte: „Ich hätte nie gedacht, dass die Hühner so schnell heimkehren würden.“ Die Metapher der heimkehrenden Hühner entspricht sinngemäß dem arabischen Sprichwort „men dakka dukka“, das auch im Türkischen gebräuchlich ist.

Arendts Aufsatz ist im Grunde eine Wiederaufnahme und Variation ihrer früheren Texte „Wahrheit und Politik“ sowie „Lüge in der Politik“, versehen mit einer nachdrücklichen Betonung, dass die Besonderheiten, die das Amerika nach der Revolution einst auszeichneten, längst verloren gegangen seien. Ordnet man ihre Schriften nicht nach dem Entstehungsdatum, sondern nach den begrifflichen Rahmen, die sie entfalten, so ergibt sich: „Wahrheit und Politik“ behandelt das Verhältnis von Politik und Wahrheit; „Lüge in der Politik“ das Verhältnis von Politik und Lüge; „Home to Roost“ schließlich fragt danach, wie der veränderte Charakter des Politischen im Umgang mit der Lüge ein Regime – ob republikanisch oder nicht – auf prinzipieller Ebene beeinflusst. In allen dreien steht, wie unschwer zu erkennen ist, die Lüge im Mittelpunkt: einmal in ihrer Beziehung zur Wahrheit, einmal in ihrer Beziehung zur Politik, und schließlich in ihrer Wirkung auf politische Ordnungen.

Arendt ist überzeugt, dass das Verhältnis von Politik und Wahrheit axiomatisch antagonistisch ist, und fasst ihre Überzeugung in einem sehr allgemeinen Satz zusammen: „Dass Wahrheit und Politik unverträgliche Größen sind, ist unbestritten, und soweit ich weiß, hat noch niemand Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gezählt.“ (Nebenbei sei angemerkt: Das im Türkischen als „doğruluk“ übersetzte „truthfulness“ ist kaum angemessen wiederzugeben. Strukturell lässt sich das englische Suffix -fulness selten befriedigend ins Türkische übertragen – das gilt auch für Begriffe wie mindfulness. Wörtlich wäre „truthfulness“ eher etwas wie „Hakikatlichkeit“, ein in der türkischen Sprache nicht vorhandenes, künstliches Wort. Es gibt allerdings „hakikatli“, was soviel wie „treu“ oder „loyal“ bedeutet und Freundschaft konnotiert. Freundschaft wiederum ist bei Arendt – etwa in ihrem Lessing-Aufsatz – eine eigenständige politische Kategorie, die über das „Brüderlichkeit“-Ideal der Französischen Revolution hinausgeht, und die ein tiefes, authentisches Gespräch voraussetzt. Sie unterscheidet sich damit sowohl von Schmitts öffentlichem als auch von privatem Feind. Bemerkenswerterweise hat Derrida, kein genauer Arendt-Leser, in seiner Politique de l’amitié dieser Unterscheidung bei Arendt zwischen „Freundschaft“ und „Brüderlichkeit“ keine Beachtung geschenkt. Und schließlich sei daran erinnert, dass bei Arendt durchaus die Möglichkeit anklingt, sich im Sinne eines Treue-Ethos der Wahrheit hinzugeben, auch wenn dies „die Welt zugrunde gehen“ lassen sollte – eine denkbare, wenngleich umstrittene Position, die sie selbst im Aufsatz „Wahrheit und Politik“ am Anfang ausführlich erörtert.)

Wenn Politik und Wahrheit miteinander im Streit liegen, wo soll man dann die Wahrheit, wo die Politik suchen?
Arendt greift hier auf eine Einteilung zurück, die auf die antiken Griechen verweist: Die Wahrheit gehört dem Philosophen, die Politik dem Marktplatz. Sobald der Philosoph mit seiner Wahrheit in die Agora hinabsteigt – also zu seinen Mitbürgern, die gewöhnlich nur als Bürger, nicht als Philosophen handeln –, läuft er Gefahr, dass seine Wahrheit auf die Stufe von Meinung, Ansicht oder bloßer Überzeugung herabsinkt. Zwar kann der Philosoph selbst Bürger sein (wie Platon als Athener oder Kant als Königsberger), doch seine Wahrheit passt nicht in die Struktur des öffentlichen Raumes. Denn während die Philosophie einem einsamen Denken gemäß ist, ist die Öffentlichkeit ein Ort des Handelns, eine politische Ordnung, in der Ansichten, Meinungen und Überzeugungen vorherrschen. „Philosophische Wahrheit betrifft den einzelnen Menschen und ist daher ihrem Wesen nach außerpolitisch“ – und auf dem Marktplatz zählt nicht die Wahrheit des Philosophen, sondern die Meinung des Mitbürgers. In der Agora gelten Meinungen, Ansichten, Fakten, Überzeugungen, ja sogar Verhandlungen und Interessen – nicht die Wahrheit des Philosophen.

In dieser von Arendt immer wieder herausgestellten Unterscheidung – vita contemplativa versus vita activa; dem dem philosophischen Wahrheitsstreben angemessenen „Dialog“ versus „Demagogie“ und „Rhetorik“; den Tätigkeiten des Geistes (Denken, Wollen, Urteilen) versus dem noch nicht im modernen Sinn verstandenen sensus communis (der erst im 19. Jahrhundert als „Gesellschaft“ auftaucht und die gesamte Struktur verändert) – zeigt sich: Auch der politische Raum verfügt, zumindest prinzipiell, über ein eigenes Wirklichkeitsbewusstsein. Arendt differenziert, insbesondere mit Blick auf das Aufkommen der modernen Wissenschaften, zwischen rationaler Wahrheit und faktischer Wahrheit. Diese Unterscheidung greift zurück auf eine schon bei den Griechen angedeutete, später etwa bei Leibniz systematisch gefasste Gegenüberstellung von Notwendigkeit und Zufälligkeit. Hobbes’ berühmtes Wort, dass selbst ein allmächtiger Herrscher alle Geometriebücher verbrennen könne, aber nicht das Axiom über die Winkelsumme des Dreiecks außer Kraft setzen könne, dient Arendt als Beleg: Verändern lässt sich nur Faktisches, Zufälliges – nicht aber die rationale Wahrheit.

Für sie gilt: „Die Wahrheiten, die das größte politische Gewicht haben, sind die faktischen Wahrheiten. Der Konflikt zwischen Wahrheit und Politik ist jedoch zuerst im Hinblick auf die rationale Wahrheit entdeckt und sichtbar gemacht worden. Einer rational richtigen Aussage steht, wie in den Wissenschaften, nur das Falsche oder das Unwissen gegenüber; oder, wie in der Philosophie, Täuschung und Meinung. Die absichtlich herbeigeführte Unwahrheit, also die schlichte Lüge, hat ihren Ort ausschließlich im Bereich faktischer Aussagen.“

(Nebenbei bemerkt: Die Überzeugung, dass euklidische Axiome auch dann gültig bleiben, wenn niemand sie kennt oder wenn sie vollständig vergessen würden, ist eine Obsession des westlichen Denkens und bleibt es trotz aller Erschütterungen. Arendt streift in Vom Leben des Geistes kurz die Möglichkeit, dass es sich tatsächlich um eine Obsession handelt. Doch verfängt sie sich, indem sie die Quelle mathematischer Wahrheit im Gehirn verankert und so ihre eigene Unterscheidung zwischen Wahrheit und Faktizität unterminiert. Der Glaube, Axiome seien selbst ohne Subjekt gültig, reproduziert einerseits das von Arendt über Merleau-Ponty hinaus verfolgte, bis in die Anfänge der griechischen Philosophie und weiter bis zu Kant zurückreichende Schema von „Sichtbarem“ und „Unsichtbarem“. Andererseits erzwingt er die Vorstellung einer herrenlosen Notwendigkeit – einer Idee, die bis in jüngere Debatten hineinreicht, etwa zu Quentin Meillassoux’ Hypothese des Archi-Fossils in Nach der Endlichkeit, wo auch die Zufälligkeit als notwendig erklärt wird. Angesichts dessen sollte man sich daran erinnern, dass Arendts Verweis „Euklid ist ein wahrer Despot“ sowie ihre Bemerkung, „dass nicht einmal Gott verhindern könne, dass zwei mal zwei vier ergibt“, weniger von der Notwendigkeit als vielmehr vom Problem handeln, dass – ob im Gewand des Theismus oder des Atheismus – versucht wird, das Unsichtbare, das ghayb, in Besitz zu nehmen.)

Es ist bemerkenswert, dass Arendt, während sie rationale Wahrheit und faktische Wahrheit (oder, wenn man will: Wirklichkeit) in ihrer Gegensätzlichkeit zu bewahren versucht, die Lüge ins Spiel bringt – und damit notwendig auch Täuschung und Irreführung. Noch einmal zur Klarstellung: Das Gegenteil von Wahrheit ist nicht die Lüge, sondern Meinung oder Illusion; im Rationalen ist es das Falsche oder die Unwissenheit. Die Lüge hingegen ist die absichtliche Verneinung einer Tatsache. Da Politik auf faktischer Wirklichkeit beruht, kann gelogen nicht in der Philosophie oder den Wissenschaften, sondern nur in der Politik werden: „Das Kennzeichen der faktischen Wahrheit [hier wäre ‚das Faktisch-Wahre‘ treffender] ist, dass ihr Gegenteil nicht ein Irrtum, ein Versehen oder eine Meinung ist, die der persönlichen Wahrhaftigkeit nichts anhaben, sondern die absichtlich vorgebrachte Unwahrheit – die Lüge.“ Genau dieses Verhältnis will der Aufsatz Wahrheit und Politik ausleuchten.

Das Interessanteste an ihm ist gewiss Arendts begriffliche Bestimmung der Lüge: Lüge ist nicht, wie bei Derrida, das unbewusste Vorbringen des Falschen; Lüge ist immer bewusst und mit Absicht geäußert. Zugleich weist Arendt darauf hin, dass es im Falle von Tatsachen noch eine weitere „Option“ gibt – und diese führt sie zur Diagnose der modernen Lüge. Diese „Option“ besteht darin, eine faktische Aussage aus ihrem tatsächlichen Zusammenhang herauszulösen (etwa: „Deutschland überfiel im August 1914 Belgien“) und sie in einen anderen Deutungsrahmen zu stellen. Wer das Gegenteil behauptet, leugnet nicht nur eine Aussage, sondern greift in die historischen und faktischen Aufzeichnungen selbst ein – er zerstört Faktum und Geschichte. Damit wird die Lüge zur Tat. Das ähnelt dem Verhalten eines Menschen, der gegen alle Beweise behauptet, ein Dokument sei „authentisch“. Und es ist nicht einmal eine „Meinung“. Wäre es eine, dann gliche es dem Verhalten eines Puritaners, der bei Aussagen über die Evangelien nicht auf ihrer faktischen Richtigkeit besteht, sondern sie als seine „Ansicht“ und damit als verfassungsmäßiges Recht deklariert. Arendt erinnert daran, dass die offene Verurteilung der Lüge als „Verbrechen“ erst mit der puritanischen Moral einsetzt – zuvor galt sie als legitimes Mittel im Umgang mit Feinden, als Instrument des Verschleierns oder Verbergens in Politik und Kirche.

Die Zerstörung faktischer oder historischer Evidenz wirft für Arendt die Frage nach den Bedingungen auf, die dies ermöglichen. Wenn die Leugnung historischer oder dokumentierter Kontexte möglich wird – und dies zudem als „Meinungsäußerung“ oder als Frage der Freiheit deklariert werden kann –, dann handelt es sich um ein Problem des Öffentlichen und des Politischen. Öffentlich, weil „faktische Wahrheit immer im Bezug zu anderen Menschen steht“. Politisch, weil „ohne faktisches Wissen und wenn Fakten selbst zum Streitobjekt werden, auch die Meinungsfreiheit zur bloßen Farce verkommt“. Eben deshalb „informiert faktische Wahrheit das politische Denken so, wie rationale Wahrheit das philosophische Spekulieren informiert“.

Kurz gesagt: Der politische Raum gründet sich auf faktische Wirklichkeiten. Er gleicht insofern der Agora der griechischen Polis. Doch die Agora ist nicht mehr die alte Agora – und wichtiger noch: Zwischen Faktizität und Meinung besteht, anders als zwischen Politik und Wahrheit, keine antagonistische Beziehung. In diesem Sinn teilt Arendt mit Alexandre Koyré die Auffassung, dass Wahrheit despotisch sei. Doch sie geht weiter: Auch die faktische Wirklichkeit habe einen herrschaftlichen Charakter, wolle anerkannt werden und sei der Diskussion entzogen. „Wie alle Wahrheiten beansprucht auch die faktische Wahrheit unbedingte Anerkennung und ist dem Streit verschlossen.“ Genau das aber widerspricht dem Wesen der Politik. Denn „Diskussion bildet das eigentliche Wesen des politischen Lebens“. Was also löst diesen Widerspruch auf?

In Über die Revolution zeigt Arendt ihre Wertschätzung für das Prinzip der Repräsentation: Die amerikanische Revolution sei deshalb erfolgreich gewesen, weil sie repräsentativ verfasst war – auch wenn dies später durch Bürokratisierung verwässert wurde. Die französische Revolution hingegen sei schon im Ansatz gescheitert, weil sie sich voluntaristisch an einer „allgemeinen Willensbildung“ orientierte. Doch bei der Analyse des Antagonismus zwischen Politik und Wahrheit bleibt Arendt weniger klar, wenn es um Revolutionen und politische Gründungen geht. Sie neigt – gegen ihre eigene Ablehnung der „allgemeinen Willensbildung“ – zu einer Art „erweitertem Denken“ (erweiterte Denkungsart bei Kant), das sie in Kants Kritik der Urteilskraft verankert sieht. Politische Diskussion ist dann unverzichtbar für die Bewahrung dieser „erweiterten Denkungsart“; fehlt sie, so wird Freiheit überdehnt und gerät in Gefahr, sich in Propaganda, Lüge oder Manipulation zu verkehren.

Damit erklärt sich auch, weshalb Arendt Wahrheit und Politik verfasste: zum einen als Antwort im Kontext der Debatten um Eichmann in Jerusalem, zum anderen aber als Versuch, den Wandel der Politik selbst zu begreifen. Das Verhältnis von Diskussion und Faktizität bewegt sich dabei entweder in Richtung auf eine „erweiterte Denkungsart“, die Politik eröffnet – oder in Richtung auf „organisierte Lüge“ und Manipulation, die Politik pervertiert.

Dann ist es sinnvoll, zunächst darauf einzugehen, warum Eichmann in Jerusalem auf so viel Ablehnung stieß:
Arendt beklagt in einem am Ende von Eichmann in Jerusalem hinzugefügten „Anhang“, dass noch bevor das Buch veröffentlicht war, bereits eine „Bildproduktion und Meinungsmanipulation“ über es in Gang gesetzt wurde – und dass dies sogar interessanter gefunden wurde als eine Auseinandersetzung mit den Thesen des Werkes selbst.

Dabei hat das Buch in Wirklichkeit eine zentrale Fragestellung: In welchem Maße erfüllte der Prozess gegen Adolf Eichmann – jenen Mann, der im Dritten Reich für die Deportation der Juden in Ghettos und Konzentrationslager verantwortlich war, nach dem Krieg nach Argentinien floh, dort gefasst und schließlich von einem Gericht des neu gegründeten Staates Israel in Jerusalem abgeurteilt wurde – tatsächlich die Kriterien der Gerechtigkeit?

Arendt baut ihr Werk auf den Prozessprotokollen sowie deren Überprüfung anhand faktischer Realität auf. Daher vertritt sie die Ansicht, dass alles, womit der Angeklagte „nicht in Beziehung stand oder wovon er nicht beeinflusst war“, aus den Verhandlungsakten und folglich auch aus dem Prozessbericht zu streichen sei. Mit dieser Haltung stieß sie sowohl bei jenen auf Ablehnung, die erst dann zufrieden wären, wenn man in Eichmann „den Eichmann in uns allen“ erkannte, als auch bei jenen, die in ihm einen „Sündenbock“ sehen wollten – sei es für die „Erbsünde“ des Antisemitismus oder für das Wesen totalitärer Regime.

Stattdessen fand sie in ihm eine ganz andere Gestalt: Eichmann, der sich selbst als Kantianer bezeichnete, behauptete, lediglich seine Pflicht erfüllt und den damals geltenden Gesetzen gehorcht zu haben. In Wahrheit verkörperte er die „Banalität“ eines Menschen, der in eine Verstrickung des Bösen geraten war. In Nazi-Deutschland war diese „Banalität“ so weit verbreitet, dass „das Böse seine Verführungskraft, die es sonst beim ersten Blick als böse erkennbar machte, verloren hatte“. An deren Stelle trat eine „strenge Bindung an Fakten“, die Eichmanns Alltäglichkeit zu dem eines Mannes werden ließ, der „nie begriff, was er tat“. Denn er hatte sein Urteilsvermögen verloren. Schuld war er dennoch – nur war Eichmann zu gewöhnlich, um ihn einen „Scheusal“ zu nennen: Er handelte gedankenlos, ohne dass ihn etwas – außer vielleicht der Ehrgeiz, befördert zu werden – antrieb.

Neben dieser Beurteilung Eichmanns stieß auch Arendts Darstellung des Verhaltens der Judenräte auf Kritik: Während sie Eichmanns Lebensgeschichte nachzeichnet und zugleich das Funktionieren des NS-Regimes beschreibt, verweist sie darauf, dass die jüdischen Räte in „guten“ (!) Beziehungen mit den Nationalsozialisten sogar mitentschieden, welche Juden wohin deportiert werden sollten. Ihre Feststellung, dass Eichmanns Abgehobenheit von der Realität und sein Mangel an Urteilskraft sowie Gedankenlosigkeit „vielleicht zu einer größeren Zerstörung führen könnten als alle teuflischen Instinkte, die in der menschlichen Natur liegen“, markierte zugleich einen eigenständigen Erklärungsweg: Das Böse ist banal, es kann von jemandem ausgehen, der in naiver Unschuld fragt: „Was habe ich denn schon getan?“

Doch die größten Schäden richtete die symbolische Überhöhung Eichmanns und die Instrumentalisierung des Prozesses zu anderen, interessanter erscheinenden Zwecken an – zuallererst am Begriff der Gerechtigkeit.

Die scharfen Reaktionen auf Arendt – selbst aus Kreisen, in denen viele das Buch gar nicht gelesen hatten – reichten bis zum Vorwurf des „Selbsthasses“, also einer Abkehr von ihrem Judentum. Sie selbst wertete dies als Manipulation von „klar definierten Interessen“ und als Ausdruck „weltlicher Anliegen bestimmter Interessengruppen, die die Wahrheit zu verfälschen suchen“. Auch auf die Rolle des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion ging sie kritisch ein: Er habe den gesamten Prozess in einer Weise gesteuert, die ihn zu einer Art Schauprozess machte. So verwandelten sich selbst Pressekonferenzen der Anklage in ein Spektakel – etwa, wenn sie als US-amerikanische Fernsehproduktion liefen, „unterstützt von der Glickman Company“ und „immer wieder von Immobilienwerbung unterbrochen“.

All dies führt Arendt zu der Frage, was geschieht, wenn Bilder die Stelle der Wahrheit und der Tatsachen in der Politik einnehmen. So formuliert sie ihre berühmte Beobachtung: Während die klassische Lüge verdecke, zerstöre die moderne Lüge. „Die vollständige und konsequente Ersetzung der Tatsachen durch Lügen“ habe nicht mehr zur Folge, „dass die Lüge für wahr gehalten und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass unser Sinn für die Orientierung in der wirklichen Welt … zerstört wird.“ Es sind Mechanismen der Banalisierung, die alle gleichmachen.

Damit wird in Wahrheit und Politik sichtbar, wie die Produktion von Bildern an die Stelle von Repräsentation tritt und wie sogar die Lügner selbst an ihre Lügen glauben. Zumal die fabrizierten Unwahrheiten vor allem für den „Binnenkonsum“ bestimmt sind: sei es für die amerikanische Öffentlichkeit, sei es – wie im Fall Eichmann – für das gesamte Israel, die jüdische Diaspora oder eine Weltöffentlichkeit, die sich angesichts der Geschehnisse beschämt zeigte. Klassische Lügen richteten sich an „Feinde“; moderne Lügen suchen sich hingegen das eigene Publikum.

Das Ergebnis ist jedoch noch verhängnisvoller: Solche Bilder und Manipulationen können „wie für alle anderen auch, so auch für die Bildproduzenten selbst bei der Herstellung ihrer ‚Produkte‘ zu einer Realität werden“. Dies ist jene Lüge, die Arendt Selbsttäuschung oder Betrug nennt, und von der Derrida behauptet, dass sie nicht nur der Logik der Lüge, sondern einer anderen Logik – einer Logik des Phantasmas, der Ideologie oder des Symptoms – gehorche. Man könnte sagen, dass Derrida versucht, die Logik bei Arendt an einen anderen Ort zu verschieben, da er Arendts Betonung der Bildproduktion, die ein bewusstes oder absichtliches Handeln erfordert und zudem politische Folgen hat, außer Acht lässt. Eine solche Lüge ist nach Arendt eine Lüge, die Tatsachen, die Zeugen haben könnten, verwandelt – und sogar jene täuschen kann, die sie verbreiten. Denn dies ist die „organisierte Lüge“.

Der Aufsatz „Lüge in der Politik“ hingegen analysiert eine konkrete Lüge. Er untersucht den Inhalt der „Pentagon Papers“, die von der New York Times veröffentlicht wurden und Aufschluss darüber gaben, was die USA nach 1945 in Vietnam unternahmen. Im Grunde werden auch hier die Thesen aus „Wahrheit und Politik“ wiederholt. Doch zeigt Arendt, wie die amerikanischen Entscheidungsträger „außerordentliche intellektuelle Ressourcen“ mobilisierten, um die Niederlage in Vietnam nicht eingestehen zu müssen und das Image der „glanzvollsten Macht der Welt“ aufrechtzuerhalten. In diesen intellektuellen Ressourcen war kein Bedarf an Fakten oder Wahrheit vorhanden; es gab lediglich eine „Theorie“, und alle Fakten oder Daten, die nicht zu dieser passten, wurden verworfen. Arendt nennt dies „Defaktualisierung [defactualization]“: „Defaktualisierung und Problemlösung wurden freudig aufgenommen, da die Missachtung der Wirklichkeit in der Politik und den Zielen selbst angelegt war.“ Auch wenn Arendt – anders als Koyré – keine scharfe Unterscheidung zwischen einer totalitären Anthropologie und einer liberal-demokratischen Anthropologie vornimmt, so scheint sie doch zu behaupten, dass im Unterschied zu den ideologischen Manipulationen der Lügen in totalitären Regimen wie dem Nazismus und dem Sowjetregime die amerikanischen Lügen zwar nach außen tödlich sein können, nach innen jedoch zu einer „Entfernung von der Wirklichkeit“ oder einer „Defaktualisierung“ führen. Dies wiederum könnte, so lässt sich sagen, das Ende der Republik bedeuten – wie weit dies für Amerika gilt, bleibt freilich diskutabel.

„Heimatlosigkeit“ kreist genau um diesen letzten Punkt und bringt nichts grundsätzlich Neues. Zwar glaubt Arendt, dass dem Verlust der faktischen Wirklichkeit nur mit Mutigen begegnet werden könne, die den Tatsachen Zeugnis ablegen und sie in Erinnerung rufen, doch so mutig wie Malcolm X ist sie nicht. Tatsächlich tritt der Kampf der Schwarzen oder anderer marginalisierter Gruppen in einem „Commonwealth“ wie Amerika in Arendts intellektuellen Horizont nur in abstrakten Erwägungen ein. Ihre Sorge ist nicht allein, unter der Lüge zu leben, vielmehr stört sie das Zusehen, wie die von ihr geglaubten Prinzipien zerstört werden. Diese Prinzipien sind die Gründungsprinzipien des Anfangs, und was in diesen nicht enthalten ist (etwa Malcolm X), tritt in ihrem Radar kaum auf; wenn es doch geschieht, dann in Form einer stillgestellten oder überdeckten Aneignung, etwa indem sie ein Zitat ohne Namensnennung verwendet. Dennoch beschränkt sie sich nicht allein auf die für öffentliche Intellektuelle typische Fokussierung auf die amerikanische Außenpolitik; sie zeigt auch, dass diese Politik nach innen zurückschlägt, dass „die Hühner zurückkehren, um zu ruhen“, und dass sowohl innen wie außen auf organisierte Lügen zurückgegriffen wird, um glanzvoll zu erscheinen, während sie zugleich zu zeigen versucht, wo eigentlich der „Ort des Ruhens“ liegt. Dass sie dabei auf eine allgemeine Formulierung wie „Alle Hühner kehren in ihre Nester zurück“ zurückgreift, erklärt sich aus ihrem Versuch, jenen „Bumerangeffekt“ auszudrücken, den die frühere Generation imperialistischer Politiker so sehr fürchtete – also die unerwartete zerstörerische Rückwirkung auf den Täter selbst. Ob dies letztlich Selbsttäuschung ist, bleibt eine andere Frage; doch besteht kein Zweifel daran, dass Arendt eher eine klassische Intellektuelle als eine öffentliche Denkerin war. Bei Kant finden sich Außerirdische, Neuseeländer mit tätowierten Gesichtern oder amerikanische Ureinwohner, die sich weniger für die zivilisierte Pracht von Paris als für dessen Restaurants begeistern würden; aber kaum ein Hinweis darauf, dass Königsberg zwischen 1758 und 1762 von den Russen besetzt war und Kosaken durch seine Straßen zogen.

Man muss noch hinzufügen: Dieser Nistplatz ist genau jener Ort, an dem Trump – zuerst in Alaska, dann im Weißen Haus vor den ihm gegenüber aufgereihten europäischen Staats- und Regierungschefs – sich als weltweiter Friedensstifter rühmte und auf einen Friedensnobelpreis hoffte, während er gleichzeitig die Nationalgarde entsandte, um Obdachlose von den Straßen Washingtons zu entfernen und weit außerhalb der Stadt unterzubringen, um die Hauptstadt „sicherer und schöner als je zuvor“ erscheinen zu lassen.

Doch – wie im nächsten Beitrag noch behandelt wird – besteht zwischen dem für die Trump-Ära geprägten Begriff Post-Truth und Arendts Analysen zur Lüge, entgegen allen gegenteiligen Behauptungen, keinerlei direkte Verbindung. Dass in der Türkei in jüngster Zeit Lügen durch politische Repräsentanten so leichtfertig ausgesprochen werden, macht jedoch eine genaue Untersuchung des Post-Truth-Phänomens notwendig.