Staat, Kapital und Adam Smith
Im letzten Jahrhundert hat die Menschheit durch Sozialismus, despotische Staatspraktiken und Weltkriege auf schmerzliche Weise gelernt, welche Gefahren ein rigider und übermächtiger Etatismus mit sich bringen kann. Wir sind inzwischen wachsam geworden. Es ist unumgänglich, aus einer philosophischen Haltung heraus zu handeln, die die Freiheit in den Mittelpunkt stellt.
Doch in jüngster Zeit haben wir ebenfalls erkannt, dass die Gegenüberstellung von Freiheit und Solidarität, von Individualismus und Kollektivismus, auch keine segensreichen Resultate hervorbringt. Viele Denker befinden sich auf der Suche nach einem dritten Weg. Doch auf diesem Weg stellen sich uns viele unbequeme Fragen. Eine der zentralen Fragen ist dabei die Rolle des Staates in der Wirtschaft – also das Verhältnis zwischen Kapital und Staat. In dieser Debatte herrscht leider mehr Nebel als Klarheit.
In Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Kapital existieren zwei festgefahrene Denkmuster. Einige Vertreter des Liberalismus sehen den Staat als Erzfeind. Auch Marxisten begegnen dem Staat mit Misstrauen – allerdings aus anderen Gründen: Für sie ist der Staat ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klassen. Doch beide Sichtweisen greifen zu kurz.
Aus einer Perspektive, die sich auf die Psychologie stützt – einem Feld, in dem ich mir ein gewisses Urteil zutraue –, gewinne ich folgende Einsicht: Der Staat entstammt einem Wesen, das den kollektiven Verstand verkörpert. Deshalb steht er in seinem Verhältnis zum Kapital im Prinzip in der Mitte. Er ist weder grundlegend gegen Kapital noch gegen den Markt, doch seine Legitimität ruht auf der Bedingung, dass die Herrschaft dem Recht unterliegt, das durch den Staat ausgeübt wird.
Der Rom-Karthago-Krieg
Die offensichtlichste Form des Konflikts zwischen dem Staat und den ökonomischen Machthabern offenbarte sich in den Kriegen zwischen Rom und Karthago. Karthago war ein Volk von Händlern, Nachfahren der Phönizier, die wiederum – je weiter man zurückgeht – Verbindungen zu den Hebräern aufweisen. Ausgehend von der syrischen Küste gründeten die Karthager eine dezentralisierte Handelskolonie und gerieten in einen erbitterten Krieg mit dem zentralistisch organisierten römischen Staat – ganz ähnlich wie einst ihre Vorfahren, die Phönizier, mit den Griechen im Konflikt standen. Am Ende wurde die berühmte Forderung des römischen Senators Cato – „Carthago delenda est“ (Karthago muss zerstört werden) – Wirklichkeit. Karthago wurde vernichtet, doch der Versuch der ökonomischen Eliten, den Staat aus dem Spiel zu drängen, setzte sich bis heute fort.
In der Moderne, in der die Macht des Geldes ins Unermessliche gewachsen ist, hat sich diese Spannung zu einem offenen Konflikt zugespitzt.
Der japanische Denker Kōjin Karatani befasst sich in seinem Werk „Die Struktur der Weltgeschichte: Von Produktionsweisen zu Austauschweisen“ (Metis Verlag) genau mit diesem Thema – dem Verhältnis von Staat und Kapital.
Nach Karatani besteht die kapitalistische Gesellschaft aus einem Borromäischen Knoten, zusammengesetzt aus Kapital, Nation und Staat. Der Borromäische Knoten ist eine Struktur aus drei Ringen, die nicht direkt miteinander verbunden sind – doch wenn einer entfernt wird, lösen sich auch die anderen beiden auf. Wie der Warenaustausch den Staat als Voraussetzung braucht, so hängt auch der Fortbestand des Staates vom Geld ab – ein Prinzip, das schon vor dem Kapitalismus galt. Schon in vorkapitalistischen Zeiten stützten sich Staaten stets auf den Handel, nutzten die Kraft des Geldes, übten aber gleichzeitig durch Steuern, Zölle und andere Mittel Kontrolle über den Handel und das Wucherkapital aus. Der Staat hat es nie zugelassen, dass die Zügel vollständig in den Händen der Händler lagen.
Denn wäre der Staat untätig geblieben, hätten sich Händler und ihre „Zwillingsbrüder“, die Wucherer, unkontrolliert bereichert. Der Wucherer – dessen einziges Ziel die Kapitalakkumulation durch Zinsen ist – hätte den Händlern Kredit gewährt, um Handelsgeschäfte zu ermöglichen. Je mehr der Wucherer hortete, desto tiefer wäre die Gemeinschaft der Produzenten in Schulden, Zinslast und Armut versunken. Letztlich hätte dies zur Destabilisierung des Staates und zum Machtverlust der Herrschenden geführt – etwas, das kein Staat zulassen wollte.
Karatani sieht in Asien und Europa unterschiedliche historische Verläufe. In Asien wurden Handel und Wucherkapital durch einen despotischen Staat weiterhin reguliert, während in Europa keine staatlich gesteuerte Handelsordnung, keine klare Marktaufsicht und auch keine Trennung zwischen Markt und Staat existierte. Als Folge entwickelte sich das Wuchergeschäft – also der Handel mit Geld – ungehindert weiter.
Diese Analyse führt Karatani bis hin zu interessanten Überlegungen über Demokratie in Ost und West. Seiner Ansicht nach war die zunehmende Präsenz der Geldwirtschaft in allen Lebensbereichen mitverantwortlich für die Zuspitzung der Klassenkonflikte und politischen Krisen in der griechischen und römischen Antike. Die europäische Antwort auf diese Krise war die Einführung der Demokratie – eine Ordnung, die in Asien keine Entsprechung fand. Doch weder der Wucher noch die sozialen Konflikte konnten dauerhaft gelöst werden; die Krise vertiefte sich.
Diese Überlegungen sind von großer Bedeutung und sollten unbedingt in die Diskussion einfließen, wenn es darum geht, unsere eigene Position im Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kapital zu bestimmen. Wie bereits erwähnt, betrachte ich diese Fragen vorrangig aus psychologischer Perspektive. Und von dort aus gesehen ergeben sich mitunter ganz andere Einsichten als jene, die im allgemeinen Diskurs vorherrschen.
Zum Beispiel: Viele, die im Namen des Liberalismus sprechen, geraten immer dann in Aufruhr, wenn das Wort „Staat“ fällt – und am Ende führen alle Diskussionen früher oder später zu Adam Smith. Doch bei genauer Lektüre erkennt man, dass Adam Smith keineswegs jener einseitige Vertreter eines freien Marktes war, als den ihn viele Liberale darstellen. Im Gegenteil: Smith äußerte sich mit bemerkenswerter Klarheit über Moral, menschliche Psychologie und den Staat – und kam damit Positionen nahe, die auch uns heute ansprechen könnten.
In kommenden Beiträgen werde ich mich mit der „Habgier“ – dem grundlegenden psychologischen Antrieb des ökonomischen Systems – auseinandersetzen. Doch bevor wir dazu kommen, scheint es mir sinnvoll, die alten Bücher wieder zur Hand zu nehmen und uns näher mit Adam Smith – und vielleicht auch ein wenig mit Karl Marx – zu beschäftigen, um den Kapitalismus, in dem wir leben, besser zu verstehen.
Ein Meister der Missverständnisse: Adam Smith
Ich denke, Adam Smith gehört zu den meistmissverstandenen Denkern der Ideengeschichte. Es ist zwar richtig, dass er sich für einen auf Freiheit und Wahlmöglichkeiten basierenden Markt aussprach und eine „politische Ökonomie“ verfolgte, die auf den Wohlstand von Staat und Volk abzielte – doch viele Aussagen über ihn sind reine Erfindung. Der Begriff „liberal“ wurde erst nach seinem Tod im Jahr 1812 geprägt, und das oft mit ihm in Verbindung gebrachte Motto „Laissez faire, laissez passer“ stammt nicht von ihm selbst.
Heute dominiert in der akademischen Welt die sogenannte „Theorie der rationalen Entscheidung“, die fälschlicherweise Adam Smith zugeschrieben wird. Diese Theorie behauptet, dass menschliches Verhalten ausschließlich durch Eigeninteresse motiviert sei. Doch weder diese Sichtweise noch ihre Verbindung zu Smith sind haltbar.
Das Missverständnis über Adam Smith entsteht vor allem dadurch, dass man sich ausschließlich auf sein Werk „Der Wohlstand der Nationen“ konzentriert und dabei sein grundlegendes Werk „Theorie der ethischen Gefühle“ völlig ignoriert. In Smiths Moraltheorie stehen positive Eigenschaften des Menschen wie Mitgefühl, das Bedürfnis nach Zustimmung und das Streben nach Gerechtigkeit im Vordergrund. In seiner ökonomischen Betrachtung hingegen findet man einen Fokus auf das Eigeninteresse. Doch Smith hat niemals behauptet, dass menschliches Verhalten grundsätzlich vom Eigeninteresse bestimmt sei.
Zugegeben, in „Der Wohlstand der Nationen“ schreibt Smith:
„Wir erwarten unser Abendessen nicht aus der Menschenfreundlichkeit des Fleischers, des Brauers oder des Bäckers, sondern aus ihrer Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil. Wir wenden uns nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Eigenliebe. Wir sprechen nicht von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.“ (S. 216)
Doch in diesen Passagen geht es nicht um die Motive unseres Handelns, sondern um das Prinzip der Arbeitsteilung. Smith versucht zu erklären, warum und wie Arbeitsteilung funktioniert und zur Quelle allgemeinen Wohlstands wird. Dass wirtschaftliche Akteure bei ihren Transaktionen an Gewinn denken, ist völlig natürlich. Daraus jedoch abzuleiten, dass alle menschlichen Handlungen ausschließlich vom Eigeninteresse geleitet sind, ist schlichtweg absurd. Smith hat nirgends behauptet, dass das Hauptziel des Menschen der Eigennutz sei oder dass wirtschaftlicher Wohlstand allein durch menschliches Verhalten erklärbar sei – dies wäre seiner Sichtweise völlig entgegengesetzt.
Adam Smith vertrat die Überzeugung, dass eine auf reines Eigeninteresse und Rationalität reduzierte Sichtweise nicht ausreicht, um menschliches Verhalten zu erklären. Er plädierte für die Berücksichtigung von Tugenden wie Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und sozialer Verantwortung. Die für ihn nützlichste Tugend war Besonnenheit. Doch das, was er unter besonnenem Handeln verstand, war keineswegs gleichzusetzen mit Eigennutz, sondern vielmehr eine Form der Selbstbeherrschung.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, der Smiths Moral- und Wirtschaftslehre nicht als widersprüchlich, sondern als kohärent auffasst, unterscheidet drei Elemente der modernen Marktwirtschaft:
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die Selbstregulation des Marktes,
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das Gewinnmotiv als Basis rationalen Verhaltens,
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das Eigeninteresse als Motor gesellschaftlicher Produktivität.
Diese drei Elemente gleichzeitig bei Smith zu finden, sei unmöglich, so Sen. Smith habe nie den Begriff „Kapitalismus“ verwendet und habe nie geglaubt, dass der Markt sich selbst genüge. Zwar hob er die Dynamik des Marktes, den Nutzen freien Handels und die Notwendigkeit von Spezialisierung hervor, doch erkannte er ebenso die negativen Seiten des Marktprozesses und des Gewinnmotivs. Aus diesem Grund misst er der Rolle des Staates in regulierten Märkten große Bedeutung bei – etwa zur Bereitstellung öffentlicher Güter wie Bildung und Gesundheit. Für Smith war es zentral, dass der Staat über ausreichende Mittel verfügt, um das Wohlergehen seiner Bevölkerung zu sichern.
Sen betont, dass es Smith letztlich um die Frage ging, wie soziale Gerechtigkeit hergestellt werden kann – ein Ziel, für das er Institutionen, Verhaltensweisen und deren Wechselwirkungen analysierte. Smith war Gegner von Luxus, Prunk und Verschwendung und sprach sich konsequent für Sparsamkeit aus.
Der türkische Wissenschaftler Adem Levent schreibt in seinem Artikel „Die Rückverbindung der Ökonomie mit der Philosophie: Amartya Sens Adam-Smith-Lektüre“ in der Zeitschrift İnsan ve Toplum (Juni 2017) kritisch:
„Sens Interpretation von Smith zielt weniger auf eine fundamentale Kritik am Kapitalismus ab, als vielmehr auf den Versuch, den Kapitalismus auf eine ethische Grundlage zu stellen.“
Ich stimme ihm zu – jedoch verstehe ich nicht ganz, warum Levent diesen Versuch, den Kapitalismus ethisch zu fundieren, so gering schätzt. Ist es denn eine Kleinigkeit, dem Kapitalismus ein ethisches Fundament zu geben?
Die Produktionsweise wird durch Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte bestimmt – weitgehend unabhängig vom menschlichen Willen. Doch ein moralisches Wesen zu sein, liegt in der Hand des Menschen. Gerade deshalb bin ich der Meinung, dass zur Begrenzung von Gier und dem daraus resultierenden Drang nach persönlichem Gewinn moralische Tugenden ins Spiel gebracht werden müssen – und dass der Staat im wirtschaftlichen Leben eine regulierende Rolle spielen sollte, ohne dabei den Wettbewerb auf dem Markt zu verzerren. In diesem Punkt stimme ich mit Adam Smith überein.
Heute benötigen wir einen moralischen Rückschnitt für den Kapitalismus, der sich von Ethik und Moral losgelöst hat, und für die Konsumgesellschaft, in der er mit all seinen Komplikationen in Erscheinung tritt. Wenn wir eine Linie des Widerstands gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft ziehen wollen, müssen wir unsere Denkmuster von Grund auf überdenken.
An die Stelle der neoliberalen Perspektive, die den Staat zunehmend aus allen Bereichen verdrängen will, sollte eine politische Ökonomie treten, die das Ziel verfolgt, sowohl den Staat als auch das Volk zu Wohlstand zu führen. Es ist an der Zeit, Adam Smith erneut zu lesen und zu interpretieren – insbesondere aus der Perspektive der Muslime, die heute unter dem Kapitalismus leiden und diesem ausgesetzt sind.