Macrons Nachfolgeproblem
Alle vergangenen Wahlen in Frankreich endeten mit Überraschungen, doch die Grundstruktur des Wettbewerbs war jedes Mal vorhersehbar. Das gilt jetzt nicht mehr.
Das Rennen um die Präsidentschaft 2027 in Frankreich ist so offen wie nie zuvor.
In den letzten fünf oder sechs Wahlen gab es zwar Überraschungen und unerwartete Wendungen, doch die Grundstruktur des Wettkampfs war schon zwei Jahre im Voraus abzusehen. Jetzt ist das nicht mehr der Fall.
Dafür gibt es mehrere Gründe: Eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Politik; das Auseinanderbrechen der alten Links-Rechts-Trennung; die Schwäche des amtierenden Präsidenten, der nicht erneut kandidieren kann und nur wenig Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers hat; sowie die globalen, wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten, die durch die Regierung von US-Präsident Donald Trump hervorgerufen wurden.
Außerdem ist die Kandidatenlage diesmal besonders unklar, da die Mitte unter Präsident Emmanuel Macron stark zersplittert ist.
Bis letzten Monat beschränkte sich der Wettbewerb um Macrons Nachfolge auf zwei seiner ehemaligen Premierminister: den Vorsitzenden der zentristisch-rechten Partei Horizons, Édouard Philippe, und den Vorsitzenden von Macrons Renaissance-Partei, Gabriel Attal. Beide haben sich inzwischen jedoch vom Präsidenten distanziert und versuchen nun, seine sozial-progressive, proeuropäische und wirtschaftsfreundliche Basis anzusprechen, während sie sich gleichzeitig von einem unbeliebten Präsidenten mit wechselhafter Bilanz abgrenzen.
Umfragen zeigen, dass Philippe in diesem Kampf um die Mitte klar führt, mit einer Unterstützung von 21 bis 24 Prozent in der ersten Wahlrunde, während Attal bei etwa 14 bis 15 Prozent liegt. Gleichzeitig droht die Kandidatur des konservativen Innenministers Bruno Retailleau, den „inneren Bürgerkrieg der Mitte“ zu einem Dreikampf eskalieren zu lassen.
Retailleau, der als Vorsitzender der stark geschwächten ex-gaullistischen Mitte-Rechts-Partei Republikaner (Les Républicains) gilt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit deren Kandidat werden. Damit stehen drei der vier Parteiführer der Regierungsallianz als Rivalen im Rennen um Macrons Nachfolge – eine von Natur aus explosive Konstellation.
Der französische Präsident hat seit den gescheiterten vorgezogenen Wahlen im vergangenen Jahr fast seine gesamte innenpolitische Einflussnahme verloren und verfügt nur über sehr begrenzte Handlungsspielräume, um dieses entscheidende „Rennen im Rennen“ zu beeinflussen. Zudem ist es wenig wahrscheinlich, dass sowohl Philippe als auch Retailleau im Wahlkampf versuchen werden, den „Macronismus“ zu retten; vielmehr streben sie danach, das sozialkonservative, wirtschaftsliberale und weniger enthusiastisch gegenüber der Europäischen Union eingestellte bürgerliche Zentrum wiederzubeleben, wie es von den ehemaligen Präsidenten Jacques Chirac oder Nicolas Sarkozy vertreten wurde.
Auf der linken Seite sieht die Lage noch viel unübersichtlicher aus. Der stets kandidierende linksextreme Jean-Luc Mélenchon, trotz seiner sehr unbeliebten Stellung in der französischen Politik, kommt in Umfragen für die erste Runde auf 13 bis 15 Prozent Unterstützung. Die Ablehnungsrate liegt bei über 70 Prozent. Wie gewohnt hat er seine Kandidatur noch nicht offiziell bestätigt, doch es ist wahrscheinlich, dass er antreten wird – was die Chancen auf einen breit unterstützten linken Kandidaten weiter erschwert.
Der bisher stärkste gemäßigte und proeuropäische linke Kandidat ist Raphaël Glucksmann. Als Mitglied des Europäischen Parlaments erzielte er bei der Europawahl 2024 überraschende Erfolge und liegt aktuell bei etwa 10 bis 11 Prozent in den Umfragen. Sowohl Glucksmann als auch Mélenchon haben erklärt, dass sie nicht an einer vorgezogenen Vorwahl teilnehmen werden, die alle linken Strömungen bündeln würde.
Inzwischen ist die einst mächtige sozialdemokratische Parti Socialiste zwischen radikalen, reformistischen und proeuropäischen Flügeln gespalten. Ihr linksliberaler Generalsekretär Olivier Faure hofft, nach einer knappen vierten Amtszeit 2027 als Präsidentschaftskandidat anzutreten. Doch aus dem moderaten Flügel der Partei formieren sich mindestens zwei Herausforderer: Carole Delga, Präsidentin der Region Okzitanien im Südwesten, und Karim Boumrane, Bürgermeister von Saint-Ouen in der Pariser Vorstadt.
Insgesamt deutet sich somit an, dass bis Ende nächsten Jahres wahrscheinlich acht Kandidaten aus dem linken Spektrum in das Rennen um die Präsidentschaft eintreten werden.
Doch auch an der extremen Rechten garantiert Spitzenposition nicht den Sieg.
Trotz eines Gerichtsurteils im März, das der Oppositionsführerin Marine Le Pen für fünf Jahre die Kandidatur untersagt, bleiben die Umfragewerte der Rassemblement National (Nationale Sammlungsbewegung) stark. In allen jüngsten Umfragen erhalten Le Pen und ihr Stellvertreter Jordan Bardella zusammen über 30 Prozent für die erste Runde. Sollten sich diese Zahlen im April 2027 bestätigen, würde einer der beiden im darauffolgenden zweiten Wahlgang als Favorit starten – doch das bedeutet keinesfalls einen sicheren Sieg.
Beide, Le Pen und Bardella, weisen sehr hohe Ablehnungswerte von 47 bis 49 Prozent auf, was es für sie äußerst schwierig macht, die für den Sieg erforderlichen 50 Prozent zu erreichen.
Die Beziehungen zwischen den beiden haben sich seit dem Gerichtsurteil weiter verschlechtert. Le Pen sieht sich bis zum Berufungsverfahren im nächsten Jahr weiterhin als die Kandidatin des Rassemblement National und ist sowohl über die Andeutungen aus Bardellas Lager als auch aus den Medien verärgert, sie sei längst nicht mehr die eigentliche Präsidentschaftskandidatin. In diesem Zusammenhang hat sie Bardellas Jugend und mangelnde Erfahrung wiederholt betont. Dennoch haben diese Spannungen bislang die gemeinsame Popularität der beiden in den Umfragen nicht geschmälert.
Natürlich sind Meinungsumfragen zum zweiten Wahlgang angesichts des langen Zeitraums bis zur Wahl 2027 selten. Einige kürzlich von Ifop und Odoxa durchgeführte Umfragen zeigen jedoch, dass Edouard Philippe sowohl Le Pen als auch Bardella schlagen könnte, während Retailleau oder Attal voraussichtlich unterliegen würden. Daher wird das Ergebnis weitgehend davon abhängen, wer im ersten Wahlgang den zweiten Platz erreicht – wenn sich die Kandidaten aus dem Zentrum und der Linken bis zum Schluss ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, könnte der Unterschied nur wenige Tausend Stimmen betragen.
Kurz gesagt: Macron hat ein Nachfolgeproblem – und die Zeit, es zu lösen, wird knapp.
*Mujtaba Rahman ist Leiter der Europa-Abteilung bei Eurasia Group. Er ist auf Twitter unter @Mij_Europe aktiv.
Quelle: https://www.politico.eu/article/emmanuel-macron-presidential-race-2027-succession-france-eu/