Ist Luft „nur Luft“ und Wasser „nur Wasser“?
Schildkrötenpanzer, Fischschuppen, der Stamm eines Baumes, das kühleWasser des Ozeans, eine Bronzestatue, menschliches Haar und die bewundernswerte Seele … Wenn wir das Universum betrachten, stoßen wirauf eine erstaunliche Vielfalt, die schwer auf einen einzigen Grundsatzoder ein einziges Element zurückzuführen ist, und wir staunen. Man sagt, die westliche Philosophie habe mit diesem Staunen begonnen. Um dieses Staunen zu besänftigen, versuchte die Philosophie seit dem antiken Griechenland, die Vielheit in die Einheit zu überführen. Alles, was existiert, könnte aus Wasser, Feuer, einer undefinierbaren Substanz oder aus Luftentstanden sein. Die ersten Philosophen dachten so und fanden für jede Möglichkeit Gründe, die aus heutiger wissenschaftlicher Sicht äußerstprimitiv erscheinen mögen. Doch war es schwierig, einen Grund oder eine Möglichkeit zu finden, wie dieses eine Element sich ins Gegenteilverwandeln und all diese Vielfalt hervorbringen könnte.
Als Empedokles die Vielheit des Universums durch die Mischung und Wechselwirkung von vier Elementen in unterschiedlichen Verhältnissenerklärte, konnten die gesuchten Gründe und Möglichkeiten leichtermiteinander verbunden werden. Als Aristoteles diesen vier Elementen den Äther hinzufügte, der als Substanz nichtkörperlicher Wesen galt, war die Theorie vollständig. Doch dann erfuhren wir zunächst durch die Liste von Antoine Lavoisier aus dem Jahr 1789 von 33, später durch das von Dmitri Mendelejew im Jahr 1869 entwickelte Periodensystem von mindestens 63 Elementen. Ein Jahr nach Mendelejews Tod stieg diese Zahl auf 89, späterauf 101. Heute erkennt die Internationale Union für Reine und AngewandteChemie 118 Elemente an, davon 94 natürliche und 24 synthetische.
Können wir also sagen, dass die Vier-Elemente-Theorie keine Gültigkeitmehr hat?
In vielen philosophischen, mythologischen und theologischen Traditionennimmt die Vier-Elemente-Theorie nach wie vor eine zentrale Rolle ein. Die weitverbreitete Annahme lautet: Eine ursprüngliche Energie nimmt beim Herabsteigen materielle Gestalt an, wodurch die vier Elemente entstehen. Diese Energie wird in einigen Traditionen mit Begriffen wie „Lebenskraft“, „Ki-Energie“ oder „Prana“ beschrieben, während sie in anderen entwederignoriert oder gar nicht erwähnt wird.
Zum Beispiel bestehen die tibetischen Stupas (monumentale Bauwerke, die die Schöpfung symbolisieren) aus einem Würfel, einer Kugel, einerSpirale, einem Halbmond und einer kleinen Kugel, die den Mond trägt. Diese Formen entsprechen der Reihe nach Erde, Wasser, Feuer und Luft. Die kleine Kugel, die den Mond stützt, symbolisiert die ursprünglicheEnergie, den Äther, aus dem die vier Elemente hervorgehen. Eine ähnlichekosmologische Lehre findet sich in der Bhagavad Gita und in den Schriftendes Bodhidharma.
Bei den indigenen Völkern Amerikas spielen die vier Elemente in Gebetenwährend der Erntezeit oder im Krieg eine wichtige Rolle. In der sumerischen Mythologie haben die Elemente eine theologische Dimension: Anu steht für Luft, Enlil für Feuer, Ninhursaga für Erde und Enki kontrolliertdie lebensspendenden Kräfte im Namen der Erde. Eine vergleichbaretheologische Bedeutung findet sich auch in der Kabbala: Der heilige Name Gottes, JHWH (Jahveh), entspricht nacheinander Feuer (Jod), Wasser(He), Luft (Waw) und Erde (He). Da der Buchstabe „He“ für Erde doppeltverwendet wird, gilt sie im Vergleich zu den anderen drei Elementen alssekundär.
Die chinesische Medizin spricht hingegen von fünf Elementen, die Naturphänomene umfassen, während in der westlichen Tradition dasfünfte Element (Äther) meist separat erwähnt wird. In der antiken griechischen Philosophie stehen die vier Elemente für die moralische(Feuer), ästhetische (Wasser), intellektuelle (Luft) und physische (Erde) Seite des Menschen.
Im mittelalterlichen und renaissancistischen Europa wurde die Elementenlehre in Anlehnung an die griechische Tradition und vor allem mit Galen als Referenz weiterentwickelt, um eine Temperamentenlehre zu begründen. Ähnlich entwickelte sich die Lehre von den Elementen in der ayurvedischen Medizin, die den Menschen zu verstehen suchte. Doch in der Moderne hat diese Theorie erheblich an Ansehen und insbesondereihre spirituelle Dimension weitgehend verloren.
Heutige Studien zu diesem Thema scheinen sich entweder auf wenigeDisziplinen wie Astrologie, Okkultismus, traditionelle Psychologie und Medizin zu konzentrieren oder auf die materielle, bestenfalls symbolischeDimension der Elemente. Die Hauptstränge, die die Theorie in die Gegenwart führen, lassen sich daher auf traditionelle Medizin, Psychologie, Astrologie und okkulte Wissenschaften zurückführen.
Was bedeuteten Wasser, Feuer, Luft und Erde für die alten Menschen, dasssie von der Kosmologie bis zur Psychologie, von der Astrologie bis zurMedizin in alle Disziplinen eindringen konnten?
Dieses Verständnis lässt sich durch die Untersuchung der vorhandenenAufzeichnungen rekonstruieren und in die Gegenwart übertragen. Dochum eine solche Übertragung vor anakronistischen Fehlern zu bewahren, müssen zwei ergänzende Ziele das Hauptziel begleiten.
Das erste Ziel besteht darin, mögliche Verbindungen und Brüche zwischenden modernen Wissenschaften und den alten Wissenschaften, in denen die Vier-Elemente-Theorie eine zentrale Rolle spielte, zu entdecken. Eine solche Untersuchung wird uns helfen, die historische Dimension der Elementenlehre von ihren zeitlosen oder überzeitlichen Aspekten zu unterscheiden.
Das zweite Ziel, das uns vor chronologischen Fehlinterpretationenbewahren kann, könnte darin bestehen, sich weniger auf die materiellenAspekte der vier Elemente zu konzentrieren und stattdessen ihre energetischen Entsprechungen und deren Wechselwirkungen zu untersuchen. Denn während Materie an Raum und Zeit gebunden ist und unsere Aussagen darüber weitgehend von wissenschaftlichenEntwicklungen abhängen, kann eine Diskussion über Energie uns in eine universelle Dimension führen.
So ist beispielsweise das Phänomen eines Wirbels überall und zu jederZeit als Versuch der Natur akzeptiert worden, ein Gleichgewichtherzustellen. Wo es zu einer Blockade kommt, wird Druck benötigt, um diese zu lösen, und dieser Druck bringt unvermeidlich Zerstörung mit sich. Dieses Prinzip gilt gleichermaßen für Disziplinen wie Psychologie, Wirtschaft, die Geschichte der Philosophie und die Physik. Oder wenn eine Energie nicht fließt, scheint die einfachste Lösung, ihre Richtung zu ändern.
Wenn wir die energetischen Beziehungen der vier Elemente zueinanderuntersuchen – etwa wie Luft der Begrenzung durch die Erde entweicht, wie Feuer die Luft anregt, ihr gleichzeitig aber Stärke und Sicherheitverleiht –, können wir ihre gegenseitigen Einflüsse und ihre transformativeKraft entdecken. Dies könnte uns ein vielseitiges Werkzeug an die Handgeben, das in allen Disziplinen anwendbar ist, und uns eine erweiterteVision der Ursprünge von Bewegung und Dynamik eröffnen.