Ist die westliche Medienlandschaft mitschuldig am Völkermord in Gaza?

Ist die westliche Medienlandschaft mitschuldig am Völkermord in Gaza?

Am 22. Juli 2025 veröffentlichte Bret Stephens, Kolumnist der New York Times, einen Beitrag mit dem Titel „Nein, Israel begeht in Gaza keinen Völkermord“ und wandte sich damit gegen diejenigen, die das Massaker in Gaza als Völkermord bezeichnen. In diesem Artikel argumentierte Stephens allen Ernstes, die israelische Regierung müsste „methodischer und weitaus tödlicher“ vorgehen, wenn sie tatsächlich die Absicht eines Völkermords hätte – ein völlig irrwitziges Argument, das selbst den Tod von Zehntausenden Zivilisten als nicht ausreichend erscheinen lässt. Dabei haben zahlreiche UN-Organisationen und internationale Institutionen wie Amnesty International die Handlungen Israels längst als Völkermord eingestuft. Stephens’ Beitrag kann als ein prägnantes Beispiel für die Tendenz westlicher Medien gesehen werden, das Geschehen in Gaza zu leugnen oder Israels Handeln zu entschuldigen. Die überwältigende Mehrheit angesehener Medienplattformen im Westen verharmlost die systematische Vernichtungspolitik Israels gegenüber den Palästinensern und normalisiert so den Völkermord – und wird damit faktisch zu einem „medialen Komplizen des Völkermords“.

Leugnung des Völkermords durch die Medien

Die Berichterstattung westlicher Medien über die Ereignisse in Gaza deckt sich in weiten Teilen mit der offiziellen Linie Israels und verharmlost das Ausmaß der Gewalt, der Palästinenser ausgesetzt sind. So kommentierte Stephens etwa, dass selbst die – nach offiziellen Angaben – fast 60.000 getöteten Palästinenser durch die israelische Armee „nicht hoch genug“ seien, um als Völkermord zu gelten. Dabei hatte allein die Zahl der in Gaza getöteten Kinder bis November 2024 die Marke von 17.400 überschritten. Diese Zahlen sind für sich genommen bereits erschütternd – die Erwartung, es müssten noch mehr Tote sein, um den Begriff „Völkermord“ zu rechtfertigen, bedeutet nichts anderes als dessen offene Leugnung. Diese Haltung in westlichen Medien bringt eine Erzählung in Umlauf, als gäbe es keine Beweise dafür, dass Israel absichtlich Zehntausende Zivilisten tötet. Doch die wiederholten Bombardierungen von Krankenhäusern, Schulen und Schutzräumen – kombiniert mit der Tatsache, dass über 17.000 Kinder in nur 13 Monaten nicht „versehentlich“ getötet worden sein können – entziehen dieser Erzählung jede Glaubwürdigkeit.

Die überwiegende Mehrheit westlicher Medien greift zur Rechtfertigung von Israels Handlungen auf den Diskurs des „Kampfs gegen den Terror“ zurück und bietet so einen verzerrten Bezugsrahmen. In der Berichterstattung werden die Angriffe der israelischen Armee meist als „Selbstverteidigung“ oder „bedauerliche Kollateralschäden“ dargestellt, während die Aktionen palästinensischer Widerstandsgruppen als „brutale Terroranschläge“ gebrandmarkt werden. Diese Doppelmoral vertauscht in der Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit Täter und Opfer. So verbreiteten zahlreiche große Medienhäuser nach den Ereignissen im Oktober 2023 ungeprüft israelische Desinformationen. Sender wie CNN und France24 etwa brachten tagelang die unbelegte Behauptung, „Babys seien enthauptet worden“, in ihren Schlagzeilen; dieselben Medien gaben sich hingegen damit zufrieden, Israels offizielle Stellungnahmen zu den Bombardierungen von Krankenhäusern oder Schutzräumen mit vielen getöteten Kindern ohne kritische Nachfrage zu übernehmen. Diese selektive Blindheit erzeugt ein Bild, in dem das menschliche Leben der Palästinenser kaum einen Wert besitzt.

In diesem Kontext nimmt die systematische Entmenschlichung der Palästinenser in westlichen Diskursen einen zentralen Platz ein. Während hochrangige israelische Regierungsvertreter Palästinenser als „Tiere“ bezeichnen, findet diese Rhetorik in westlichen Medien oft kaum Beachtung und bleibt ohne nennenswerte Kritik. Manche Kolumnisten scheuen sich nicht, die Menschen in der Region mit Ungeziefer zu vergleichen. So veröffentlichte Thomas Friedman einen Artikel, in dem er den Nahen Osten mit einer Dokumentation aus der Reihe Animal Planet verglich und die Bevölkerung der Region mit verschiedenen Raubtiermetaphern herabwürdigte. In einem solchen Klima werden palästinensische Opfer in den Augen der Leser zu bloßen Statistiken oder zu anonymen Massen, die angeblich eine „Bedrohung für die zivilisierte Welt“ darstellen. Selbst die Unschuld palästinensischer Kinder wird sprachlich in Frage gestellt: Die BBC etwa bezeichnete das vierjährige Mädchen Hind Rajab, das von einer israelischen Kugel in den Rücken getroffen und getötet wurde, als „eine junge Dame“ – während israelische Geiseln in derselben Meldung als „Frauen und Kinder“ beschrieben wurden. Diese Weigerung, palästinensische Kinder überhaupt als „Kinder“ zu benennen, ist ein Beispiel für das von der Wissenschaftlerin Nadera Shalhoub-Kevorkian geprägte Konzept des „Unchilding“ (der „Entkindlichung“). Solche Formulierungen verharmlosen das Leid palästinensischer Opfer und verhindern, dass die begangenen Verbrechen in der westlichen Öffentlichkeit die angemessene Empörung hervorrufen.

Gezielte Angriffe auf Journalisten und der Angriff auf die Pressefreiheit

Die grausamen Dimensionen des anhaltenden Massakers in Gaza wurden am eindrucksvollsten von mutigen palästinensischen Journalistinnen und Journalisten dokumentiert, die ihr Leben riskierten, um der Welt die Wahrheit zu übermitteln. Israel hat systematisch versucht, diese Zeugen seiner Verbrechen zum Schweigen zu bringen. Seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 wurden über 200 Medienschaffende – die meisten von ihnen Palästinenser – während ihrer Arbeit getötet. Laut Vereinten Nationen lag diese Zahl im August 2025 bereits bei über 240; einige Quellen sprechen von nahezu 270 getöteten Journalistinnen und Journalisten. Damit handelt es sich um die blutigste Periode für die Presse in der modernen Kriegsgeschichte. Zudem stellte das renommierte Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) fest, dass ein erheblicher Teil dieser Tötungen gezielte Hinrichtungen waren. Nach CPJ-Recherchen wurden mindestens 26 Journalistinnen und Journalisten direkt von israelischen Streitkräften ins Visier genommen und getötet; diese Fälle klassifiziert das Komitee ausdrücklich als „Morde“.

Die israelische Regierung verbietet inzwischen auch ausländischen Korrespondenten den Zugang zum Gazastreifen – offenbar, um das Ausmaß der Zerstörung vor internationalen Beobachtern zu verbergen. So stammen fast alle Bilder und Berichte aus Gaza ausschließlich von palästinensischen Medienschaffenden. Doch selbst diese letzten verbliebenen Zeugen werden von Israel gezielt ausgeschaltet. Laut CPJ starben rund zwei Drittel der getöteten Journalistinnen und Journalisten durch Luftangriffe, der Rest wurde unter anderem durch gezielte Drohnenangriffe getötet. Die israelische Armee erklärt praktisch jeden palästinensischen Reporter pauschal zu einem potenziellen „Terroristen“, um deren Tötung zu rechtfertigen – eine Taktik, wie sie sonst von autoritären Regimen genutzt wird, um kritische Stimmen zu diskreditieren. International bleibt diese Vorgehensweise weitgehend ohne ernsthafte Konsequenzen. Damit ist Pressefreiheit in Gaza buchstäblich zum Ziel von Bomben und Kugeln geworden; authentische Berichterstattung bedeutet dort, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.

Diese Strategie dient auch dem Ziel, einen „Krieg ohne Zeugen“ zu führen. Werden diejenigen, die Kriegsverbrechen dokumentieren, ausgeschaltet, bleibt niemand zurück, der die Geschehnisse bezeugen könnte. Dass israelische Streitkräfte in Gaza nicht davor zurückschrecken, Pressebüros, Pressefahrzeuge und sogar Journalistinnen und Journalisten in Schutzwesten mit der Aufschrift „PRESS“ ins Visier zu nehmen, ist Teil dieser bewussten Verdunkelungspolitik. Laut Römischem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs gilt das gezielte Angreifen von Journalistinnen und Journalisten in Kriegsgebieten als Kriegsverbrechen. In der Realität ändert diese Rechtslage jedoch nichts am Geschehen: Israel ignoriert grundlegende Prinzipien des Völkerrechts, beruft sich auf „Sicherheitsinteressen“ und stößt im Westen lediglich auf schwache, folgenlose Kritik.

Enes al-Sharif – Wie Gazas Stimme zum Schweigen gebracht wurde

Eine der Symbolfiguren der Angriffe auf die Presse in Gaza ist Enes al-Sharif – ein Beispiel, das die Haltung westlicher Medien besonders deutlich macht. Enes war ein junger Reporter des Al-Jazeera-Büros in Gaza und widmete mehr als 22 Monate seines Lebens der Aufgabe, die Wahrheit aus dem belagerten Gazastreifen in die Welt zu tragen. Am 10. August 2025 wurde er, während er im Pressezelt nahe des Shifa-Krankenhauses arbeitete, bei einem gezielten Luftangriff der israelischen Luftwaffe zusammen mit vier Kollegen getötet. Kurz darauf erklärte das israelische Militär öffentlich, Enes sei Mitglied der Hamas gewesen – ohne jegliche Beweise vorzulegen – und übernahm die Verantwortung für den Angriff. Dieses Vorgehen entspricht einer langjährigen israelischen Praxis: Zuerst wird der Journalist getötet, dann sein Ruf zerstört. Schon in der Vergangenheit wurden von Israel getötete palästinensische Reporter entweder als „versehentlich im Kreuzfeuer getötet“ abgetan oder als „Terroristen“ diffamiert.

Auch in diesem Fall fand die israelische Darstellung ihren Weg in westliche Medien. So titelte ein international angesehenes Nachrichtenportal: „Israel tötet Al-Jazeera-Journalisten, von dem es behauptet, er habe für die Hamas gearbeitet.“ Solche Schlagzeilen wiederholen unkritisch die Argumentation des Täters und laufen Gefahr, den Mord in den Augen des Publikums zu legitimieren. Manche westliche Medien verbreiten Israels fragwürdige „Beweise“ ohne eigene Überprüfung und werden so – bewusst oder unbewusst – zu Werkzeugen einer Propagandaschlacht. Dabei war Enes al-Sharif, wie Kollegen und Angehörige bezeugen, nichts anderes als ein Journalist, dessen einziges „Verbrechen“ darin bestand, Gazas Stimme zu sein. Es ist bekannt, dass er von israelischen Stellen bedroht wurde, man habe ihm deutlich gemacht, dass er „den Preis zahlen“ müsse, falls er weitermache. Zunächst wurde sein Vater bei einem Angriff getötet, schließlich er selbst. Enes lebte getrennt von seinen Kindern, um diese vor möglichen Angriffen zu schützen. Kurz vor seinem Tod schrieb er einem Freund: „Ich werde Gaza nur verlassen, um in den Himmel zu gehen.“

Enes al-Sharifs Ermordung ist das bittere Ergebnis einer Politik, die unbequeme Wahrheiten zum Schweigen bringen will. Schuld daran sind nicht nur die Täter, die den Abzug drückten, sondern auch jene, die diesen Mord unter Verletzung journalistischer Standards verbreiteten. Nach den Grundprinzipien des Journalismus muss jede Behauptung kritisch hinterfragt und überprüft werden. Doch einige westliche Medien übernahmen Israels unbegründete Terrorismusvorwürfe gegen Enes nahezu wortgleich und stellten damit ihre berufliche Integrität in Frage. Diese Haltung ist fast ebenso gefährlich wie die physischen Angriffe selbst – denn sie trägt dazu bei, künftige Tötungen von Journalistinnen und Journalisten zu erleichtern. Medien, die solche Narrative übernehmen, produzieren letztlich eine moralische Mitverantwortung für die Tat.

Fazit

Angesichts der anhaltenden humanitären Katastrophe in Gaza zeigt sich die westliche Medienlandschaft in erschreckendem Maße von doppelten Standards geprägt: Sie bringt Palästina zum Schweigen, legitimiert Israel und macht sich so mitschuldig am Völkermord. Obwohl Israels Handlungen klar die Merkmale des im Völkerrecht definierten Verbrechens des Völkermords tragen, scheuen einflussreiche Medien davor zurück, dies zu benennen – oder sie leugnen und relativieren es sogar. Diese rhetorische Komplizenschaft verzerrt nicht nur die Realität, sondern trägt auch dazu bei, dass Israel der Rechenschaftspflicht entgeht. Wer angesichts der massenhaften Ermordung von Journalistinnen und Journalisten und der Zerstörung des Rechts auf Information keine klare, entschlossene Haltung einnimmt, wird – ob gewollt oder nicht – zum Komplizen des Verbrechens.