Israels neues Sicherheitsrisiko: Erdoğans neo-osmanische Politik und der türkische Geheimdienst

Sin’at Ḥinam: Erdoğans grundlose Feindschaft gegenüber Israel*
Von Michael S. Weiss

Die aktive Rolle, die die Türkei im Gaza-Waffenstillstand zu übernehmen versucht, zeigt nicht nur ihre Schirmherrschaft über die Terrororganisation Hamas, sondern auch ihren Anspruch, zum neuen Machtzentrum des Nahen Ostens zu werden.

Erdoğans mittlerweile offen zur Schau gestellte osmanische Träumereien spiegeln sich auch in den strategischen Entscheidungen seiner einflussreichsten Bürokraten wider. Unter dem Vorwand, den palästinensischen Staat zu verteidigen, verfolgt Erdoğan in Wahrheit das Ziel, Israel einzuschränken und als Rivalen zu schwächen. Seine fähigsten Beamten hat er genau zu diesem Zweck eingesetzt. Hakan Fidans Bemühungen um außenpolitischen Einfluss werden durch İbrahim Kalıns nachrichtendienstlich gestützte Diplomatie – über den MIT – ergänzt.

Warum stellt der MIT Israel ein Bein?

Seit seiner Ernennung im Jahr 2023 hat der türkische Geheimdienstchef İbrahim Kalın den MIT aus einer klassischen Nachrichtendienstinstitution in ein strategisches Instrument verwandelt, das die Außenpolitik des Landes maßgeblich prägt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt mit Kalın und zuvor mit Hakan Fidan seine offen verfolgten neo-osmanischen Ambitionen Schritt für Schritt um.

Dies schafft aus israelischer Sicht ernsthafte Risiken. Israels führende Strategen äußern es selten offen, doch sie sehen in Erdoğans und des MITs Politik – die sich gegen Premierminister Netanyahu richtet, aber in Wirklichkeit anti-israelisch geprägt ist – eine bedenkliche Entwicklung. Auch in Gesprächen mit Donald Trump kam dieses Thema immer wieder zur Sprache, doch Trumps pragmatische Haltung verhinderte eine entschlossene Reaktion gegenüber Ankara.

Analysen der vergangenen zwei Jahre – von Feldoperationen bis zu diplomatischen Kontakten und Rhetorik – zeigen, dass der MIT zunehmend in Konflikt mit Israels Sicherheits- und Geheimdienstinteressen gerät. Der MIT scheint hinter jeder Bewegung zu stehen, die Israels regionalen Einfluss schwächt. Denn Israels Existenz wird als zentrales Hindernis für die Etablierung einer türkischen Regionaldominanz betrachtet. Selbst westlich orientierte türkische Eliten zeigen sich zunehmend besorgt über diesen riskanten Kurs, der sich von der traditionellen Politik entfernt. Tel Aviv steht somit vor zwei Optionen: Entweder mit der kaum vergleichbaren Stärke Ankaras in Konfrontation zu treten – oder eine neue diplomatische Grundlage zu suchen.

Die neue MIT-Doktrin: „Unabhängige Machtsphäre“

Mit seinem Amtsantritt hat Kalın den MIT weit über seine klassische Funktion hinausgeführt.
Der Dienst sammelt nicht mehr nur Informationen, sondern gestaltet aktiv regionale Prozesse mit.

  • In Gaza, Libanon, Syrien und im Irak führt der MIT Operationen vor Ort durch.

  • Die nachrichtendienstliche Kooperation mit Katar und Iran vertieft sich.

  • Die Türkei entwickelt sich zu einer „ausgleichenden Macht“ – trotz des Westens.

Diese Strategie birgt für Israel zwei zentrale Risiken:

  1. Aufbau eines parallelen Nachrichtennetzwerks in den Sicherheitsstrukturen der Region.

  2. Diplomatische Isolation Israels durch eine neue Legitimitätskonkurrenz auf regionaler Ebene.

Kalın hat damit Erdoğans langjährige „neo-osmanische Außenpolitikvision“ auf die Ebene der Nachrichtendienste gehoben. Dieser Ansatz beschränkt sich nicht auf kulturelle Nostalgie gegenüber den ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches, sondern zielt auf den Aufbau einer geopolitischen Einflusszone.

Die zunehmenden Aktivitäten des MIT auf dem Balkan, in Nordafrika und am Roten Meer zeigen, dass diese Strategie auch eine geheimdienstliche Dimension besitzt. In Israels Sicherheitskreisen wird diese Entwicklung als ideologische Expansion interpretiert, die das Streben der Türkei nach regionaler Führungsrolle mit ihrer nachrichtendienstlichen Kapazität verbindet.

Bemerkenswert ist, dass Kalın all dies tut, während er gleichzeitig ein hohes Maß an Vertrauen bei Washington, London und Paris aufbaut. Vor allem führende Köpfe der amerikanischen Sicherheitsarchitektur sehen in Kalıns Analysen und regionalen Einschätzungen einen wichtigen Kooperationspartner.

Dass Kalın gleichzeitig enge Beziehungen zu staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in der Region pflegt und dennoch mit Moskau, Peking, Washington, Paris und London intensiv zusammenarbeitet, deutet auf eine Struktur hin, die weit über traditionelle Nachrichtendienstmuster hinausgeht. Dieses Phänomen spiegelt sich im internationalen Bewusstsein vor allem in Erdoğans dynamischer Diplomatie und taktischem Pragmatismus wider – hinter dem, so Weiss, Kalıns „feine Handarbeit“ unter Erdoğans Führung steckt.

Der amerikanische Geschäftsmann Witkoff erklärte, dass er auf die Expertise von Außenminister Hakan Fidan und MIT-Chef İbrahim Kalın vertraue und seine Beratungen meist über Barrack liefen. „Die Herren, von denen ich in der Türkei spreche, sind Experten auf ihrem Gebiet, und Trump ermutigt mich, so zu handeln. Ich rufe zum Beispiel Tom an und frage: ‚Was denkt İbrahim darüber?‘“, sagte Witkoff.

Ankaras Bemühungen, im Nahen Osten erneut die Rolle eines „zentralen Akteurs“ einzunehmen, werden in Israel als potenzielle Quelle der Instabilität innerhalb der regionalen Kooperationsarchitektur (einschließlich der Abraham-Abkommen) wahrgenommen.

Erdoğans treuer Bürokrat, der nie von seiner Linie abweicht

İbrahim Kalıns persönliche Loyalität gegenüber Präsident Erdoğan wird sowohl innerhalb der türkischen Bürokratie als auch von ausländischen Beobachtern häufig betont. Seit seinen Zeiten als Sprecher des Präsidialamts und Chefberater für Sicherheit und Außenpolitik gilt Kalın als einer der Vordenker von Erdoğans sicherheits- und außenpolitischen Entscheidungen.

Mit seiner Ernennung zum Leiter des MIT (Nationaler Nachrichtendienst) wurde diese persönliche Bindung zu institutioneller Loyalität erhoben. Die strategischen Prioritäten des MIT richten sich seither weniger nach klassischen Sicherheitsparametern als vielmehr nach Erdoğans außenpolitischer Agenda.

Dies verwandelt den Dienst von einer „unabhängigen professionellen Nachrichteneinrichtung“ in ein politisch gesteuertes Machtinstrument.
Aus israelischer Sicht führt das zu wachsender Unsicherheit in der türkischen Entscheidungsfindung: Nicht mehr institutionelle Kontinuität, sondern Erdoğans persönliches Weltbild wird zum bestimmenden Faktor.

Kontakte zu Hamas und den „Widerstandsfronten“

Ein ehemaliger israelischer Spitzenpolitiker erklärte, dass die Türkei unter Kalıns Leitung ihre Kontakte zur Terrororganisation Hamas nicht nur auf diplomatischer, sondern auch auf nachrichtendienstlicher Ebene fortgesetzt habe.

Während der Gaza-Waffenstillstandsverhandlungen 2024 führte der MIT in Katar mehrere Sitzungen mit Hamas-Vertretern.
Israelische Quellen berichteten, dass der MIT den Hamas-Delegierten dabei „Kommunikationserleichterungen“ verschaffte und einige Anführer aus sicheren Zonen in der Türkei online zugeschaltet wurden.

Der MIT arbeitete in diesem Prozess eng mit den Geheimdiensten Katars und Ägyptens, jedoch nicht mit dem israelischen Geheimdienst zusammen – ein Umstand, der in Tel Aviv als Versuch gesehen wird, Hamas indirekt Legitimität zu verleihen.

Während andere Staaten ihren Einfluss auf Hamas oft als vermittelndes Instrument gegenüber Israel nutzen, scheint Kalın die türkischen Kanäle bewusst als Werkzeug einer unabhängigen, von Israel abgekoppelten Politik zu verwenden.

Strategie der Ablehnung arabischer Staaten, die mit Israel kooperieren

Unter Kalın hat die türkische Geheimdienstdiplomatie in der arabischen Welt neue Formen angenommen.
Mit Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die sich auf der Normalisierungslinie mit Israel befinden, verfolgt Ankara eine Politik der „begrenzten Kooperation bei großer Distanz“.

Der MIT vermeidet direkte Koordination mit den Geheimdiensten dieser Länder und baut stattdessen „alternative Vermittlungskanäle“ auf.
Israelische Analysten interpretieren diese Haltung als Versuch, die arabische Welt wieder in den türkischen Einflussraum zu ziehen – als nachrichtendienstliche Variante des neo-osmanischen Projekts.

Ziel ist, ohne offenen Bruch mit dem Westen, die Türkei im Nahen Osten erneut als „zentrale Macht“ zu positionieren.

Operationen gegen den Mossad in der Türkei

Seit 2021 – zunächst unter Hakan Fidan, jetzt Außenminister – hat die Türkei zahlreiche Personen festgenommen, die Verbindungen zum Mossad gehabt haben sollen.
Mit Kalıns Amtsantritt wurden diese Operationen noch systematischer:

  • 2024: In Istanbul wurden 33 Personen wegen angeblicher Mossad-Kontakte festgenommen.

  • 2025: Ein Kosovare mit dem Decknamen „Rexhepi“ wurde wegen angeblicher Finanznetzwerke für den Mossad verhaftet.

  • 2025: Ein Spionagering mit sechs Mitgliedern erhielt insgesamt 100 Jahre Haft.

Auch wenn Ankara diese Maßnahmen als nationale Sicherheitsvorkehrungen bezeichnet, sieht Israel darin diplomatischen Druck und psychologische Abschreckung.

Ideologische Grundlage: Die Rhetorik der „Allianz der Zivilisationen“

Kalıns akademischer Hintergrund unterscheidet ihn von anderen Geheimdienstchefs.
Seine Betonung der „Selbstbehauptung der islamischen Zivilisation gegenüber dem hegemonialen Westen“ prägt zunehmend die strategische Sprache des MIT.

Erdoğans Wunsch, sich als „neuer türkischer Sultan“ zu inszenieren, verschmilzt mit Kalıns intellektueller, in zivilisatorischen Begriffen verpackter Argumentation.
In israelischen Thinktanks wird diese Haltung als „identitätsbasierte Sicherheitsideologie“ bezeichnet.

Unter Kalın wird der MIT nicht nur als Sicherheitsorgan, sondern auch als Erzeuger ideologischer Legitimation verstanden.

Auswirkungen auf das regionale Kräftegleichgewicht

  • Die türkischen Operationen in Libyen, Syrien, Libanon und am Roten Meer beeinflussen indirekt Israels Sicherheitsarchitektur im östlichen Mittelmeer.

  • Marinebasen in Somalia und Sudan schränken Israels logistische Tiefe im Roten Meer ein.

  • MIT-Aktivitäten am Horn von Afrika überschneiden sich zunehmend mit iranischen Netzwerken.

Reaktionen in Washington

In den USA herrscht in Kongress- und Thinktank-Kreisen der Eindruck, dass die MIT-zentrierte Außenpolitik der Türkei innerhalb der NATO ein eigenes Machtzentrum bildet.
Berichte von JINSA und WINEP betonen, dass „die nachrichtendienstliche Autonomie der Türkei die Koordination im westlichen Bündnis schwächt.“

Fazit: Eine Ära des dauerhaften Misstrauens

Unter Kalın hat sich der MIT von einem nationalen Nachrichtendienst zu einem politisch-ideologischen Akteur mit regionalem Machtanspruch entwickelt.

Für Israel ergeben sich daraus vier zentrale Risiken:

  • Operativ: Der Handlungsspielraum des Mossad in der Region schrumpft.

  • Geopolitisch: Israel hat mit der stärksten Regionalmacht keine stabile diplomatische Beziehung.

  • Diplomatisch: Ankara bringt Akteure wie Hamas und Katar an internationale Verhandlungstische.

  • Ideologisch: Die Türkei etabliert eine Sprache, die Israels sicherheitspolitische Legitimität infrage stellt.

Kurz gesagt: Auch wenn kurzfristig ein gewisser Dialog offen bleibt, hat Kalıns neue Doktrin eine Phase strategischen Misstrauens zwischen beiden Ländern eingeläutet – eine Entwicklung, die nicht nur die türkische Modernisierungsrichtung, sondern auch ihre westlichen Beziehungen nachhaltig belastet.

Das jüdische Volk muss in seinem Streben nach Sicherheit und Bestand auch diese neue Form des sin’at hinam – der grundlosen Feindschaft – überwinden.

*Sin’at Ḥinam: Ein talmudischer Ausdruck, der „grundlose Feindschaft“, „innere Spaltung“ oder „unbegründeten Judenhass“ bedeutet.

*Michael S. Weiss: Unabhängiger Forscher und Historiker, Autor des Buches „Die Juden im byzantinisch-vatikanischen Konflikt“.

Quelle: https://pubhtml5.com/gzjnz/jfdx/