Israel und die neue „Konfliktdoktrin“
Im israelischen Besatzungsstaat hat sich eine neue Denkweise herausgebildet: Der Wunsch, mit allen in Konflikt zu treten – oder das, was man als „Konfliktdoktrin“ bezeichnet. Nach dem plötzlichen Angriff Israels auf Teheran, bei dem zahlreiche militärische Führer und Wissenschaftler, die am iranischen Atomprogramm beteiligt waren, getötet und mehrere Einrichtungen zerstört wurden, argumentieren einige israelische Denker, dass dieses Vorgehen richtig sei. Sie behaupten, dass es eine gefährliche Illusion sei, Stabilität durch Normalisierung und Ruhe herstellen zu wollen. Vertreter dieser Denkweise glauben, dass die Angst vor einer Konfrontation mit der Hamas im Gazastreifen letztlich zum Angriff vom 7. Oktober geführt habe. Natürlich ignorieren sie dabei die Politik der israelischen Regierung: die Angriffe auf die Al-Aqsa-Moschee, die Judaisierung Jerusalems, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland, die Verschärfung der Blockade gegen Gaza, die Misshandlungen tausender palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen und die Normalisierung der Beziehungen zu mehreren arabischen Staaten, ohne das palästinensische Problem zu lösen – wodurch dieses Problem perspektivlos gemacht wird. Diese Personen betrachten nicht Israels völkerrechtswidrige Besatzungspolitik als Ursache der aktuellen Lage, sondern glauben im Gegenteil, dass die bisherigen Maßnahmen weniger konfliktreich gewesen seien als die aktuelle Situation. Befürworter dieser Sichtweise meinen zudem, dass der von Israel nach dem 7. Oktober begonnene umfassende Krieg gegen die Hisbollah im Libanon ein abschreckendes Beispiel gewesen sei, das die Partei davon abhalten solle, weitere Aktionen gegen Israel durchzuführen. Tatsächlich jedoch hat die israelische Politik gegenüber der Hisbollah seit 2006 dazu geführt, dass diese Organisation stärker wurde und mittlerweile über mehr als 150.000 Raketen verfügt.
Daher versuchen die Vertreter dieser Ansicht zu argumentieren, dass der Angriff auf den Iran Teil dieser „Konfliktdoktrin“ sei – einer Strategie, die den Gegner nicht erst stark werden lässt. Sie behaupten, diese Haltung sei eine Lehre aus früheren Erfahrungen wie dem 7. Oktober oder dem Krieg mit der Hisbollah. Nach ihrer Auffassung reicht es nicht aus, den Gegner nur mit Drohungen und Abschreckungspolitik einzuschränken – man müsse aktiv und direkt handeln. Sie glauben zudem, dass die Fähigkeit der zionistischen Gesellschaft, in zwei Jahren Krieg hohe Kosten zu tragen, ein wesentlicher und grundlegender Faktor sei, um eine solche Konfliktpolitik durchzuhalten – selbst wenn das bedeutet, in lange und kostspielige Kriege einzutreten. Dies zeigt sich nicht nur an den Vergeltungsangriffen Israels auf Stellungen der Huthis im Jemen, die die Hamas in Gaza unterstützen, sondern auch an dem Versuch, potenzielle Bedrohungen – wie im Falle Irans – durch direkte Konfrontation zu beseitigen. Diese Einschätzung kommt zu früh.
Denn die Politik der Konfrontation mit dem Iran hat erst vor wenigen Tagen begonnen – ihre endgültigen Ergebnisse sind noch völlig unklar. Einfach gesagt: Der Iran ist weder die Hamas noch die Hisbollah. Zudem übersehen diese Theoretiker die Tatsache, dass Israel diese Auseinandersetzung seit über 600 Tagen führt – und seine Fähigkeit, den Krieg durchzuhalten, zunehmend in Frage gestellt wird. Aus einer anderen Perspektive ignorieren diese Denker auch, dass die Hamas in Gaza nicht besiegt wurde und dass die Hisbollah seit acht Monaten daran arbeitet, ihre Fähigkeiten wiederherzustellen und sich neu aufzustellen. Theoretiker wie Jonathan Adiri vertreten in Artikeln in der Zeitung Yedioth Ahronoth die Auffassung, dass starke Staaten nicht nach Ruhe und Stabilität streben, sondern nach permanentem Konflikt – weil dies für sie angeblich der einzige Weg zur Vorherrschaft sei. Das ist jedoch schlichtweg falsch. Denn auch wenn mächtige Staaten im Laufe der Geschichte Kriege als Mittel eingesetzt haben, so basierte die dauerhafte Existenz aller langlebigen Großmächte immer auf langfristiger Stabilität. Daher verfolgt die in Israel aufsteigende zionistische Denkweise einen Kurs ständiger Kriege in der Region – ohne die enormen sozialen, wirtschaftlichen und geopolitischen Kosten solcher Konflikte zu berücksichtigen. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass diese Kreise übersehen, dass Israel ein kleines Land ist und nicht über die gleiche Durchhaltefähigkeit in dauerhaften Kriegen verfügt wie große Staaten. Sie glauben fälschlicherweise, dass sich die USA dauerhaft in ihre Kriege hineinziehen lassen. Doch ob mit oder ohne amerikanische Beteiligung – die sichtbaren und unsichtbaren Verluste in der israelischen Gesellschaft, Wirtschaft und Armee werden sich in den kommenden Monaten deutlich zeigen.