Helden und Barbaren: Wer wird am Ende gerichtet werden?

Im Jahr 1944 erreichten die Kämpfe zwischen den deutschen Nazitruppen und den alliierten Streitkräften ihren Höhepunkt. In dieser Phase, die als die grausamste und tragischste Periode des Zweiten Weltkriegs bezeichnet werden kann, griffen die alliierten Kräfte mit aller Macht die deutschen Armeen an, während die Lage für die Deutschen längst zu einer Frage von Leben und Tod geworden war.
Besonders im Norden, wo die niederländische Bevölkerung mit britischen und US-amerikanischen Soldaten zusammenarbeitete, erreichte das Verlangen der Deutschen nach Rache seinen Höhepunkt. Hunderttausende Männer aus Rotterdam wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, während hinter ihnen tote Städte zurückblieben. Die im Exil befindliche niederländische Regierung hatte die Briten um Hilfe gebeten, doch diese reagierten – mit einer Begründung, die uns heute allzu vertraut erscheint – ablehnend, aus Sorge, „den Ernst internationaler Erklärungen“ zu untergraben.
Die Städte Den Haag, Amsterdam und Rotterdam waren buchstäblich dem Hunger ausgeliefert, und Arnheim hatte sich in eine Stadt des Todes verwandelt. Die Menschen unternahmen lange Märsche aufs Land, um ihre letzten Wertgegenstände gegen Lebensmittel einzutauschen. Doch als es schließlich nichts mehr zu tauschen gab, verwandelten Hunger und die daraus folgenden Typhus- und Diphtherie-Epidemien die Städte in lebende Friedhöfe. Zehntausende starben an Hunger und hungerbedingten Krankheiten, Millionen wurden direkt oder indirekt davon betroffen.
Vor 80 Jahren, in einem Land, das heute zu den „am weitesten entwickelten Ländern Europas“ gezählt wird, erlebte die Bevölkerung im sogenannten „Hungerwinter“ eines der tragischsten Massaker der neueren Geschichte. Antony Beevor schreibt in seinem Buch,[2] dass viele Niederländer nicht verstehen konnten, warum die Alliierten so lange zögerten, ihnen zu helfen – sie waren fassungslos.

„Fassungslosigkeit“ und „Unverständnis“ sind wohl die gemeinsamen Gefühle aller Kriegsopfer. In einer Dokumentation, die Jahre nach dem Massaker von Srebrenica gedreht wurde, konnte eine Mutter, die ihre Kinder verloren hatte, nicht begreifen, warum sie getötet werden sollten. Dass Nachbarn, mit denen man jahrelang Seite an Seite gelebt hatte, sich über Nacht in brutale Mörder verwandelten und eine regelrechte Menschenjagd begannen, ließ sich mit keinem anderen Begriff als Fassungslosigkeit erklären. Ebenso unbegreiflich war das Verhalten der niederländischen Soldaten, die angeblich zur Verteidigung der Zivilbevölkerung entsandt worden waren, aber die serbischen Angreifer ignorierten und die Zivilisten plötzlich schutzlos ihren Mördern überließen.

Im Herbst 1982 warteten die unter israelischem Kommando stehenden libanesischen Phalangisten nur auf die Erlaubnis des damaligen israelischen Verteidigungsministers Ariel Scharon, um in die Lager Sabra und Schatila einzudringen und dort die Palästinenser zu massakrieren. Selbst einige israelische Offiziere waren gegen diese Erlaubnis, da die Phalangisten offen erklärt hatten, dass sie ein Blutbad anrichten würden. Der Journalist Amnon Kapeliouk berichtet in seinem Buch über das Massaker von Sabra und Schatila, dass ein israelischer Offizier nach Scharons Zustimmung gesagt habe:
„Die libanesischen Streitkräfte ähneln den Milizen von Saad Haddad. Sie haben zu lange im Hauptquartier der Nordfront verweilt. Gegen unbewaffnete Zivilisten hält sich jeder von ihnen für einen Helden.“

Unter Aufsicht der israelischen Armee ereignete sich eines der größten Massaker des 20. Jahrhunderts. Die israelischen Soldaten, die am Eingang des Lagers Wache hielten, bezeichneten die Menschen im Inneren als „zweibeinige Tiere“. Ein Mann, dessen Familie – einschließlich seines vier Monate alten Babys – in diesem Massaker ermordet wurde, stellte mit demselben Ausdruck der Fassungslosigkeit dieselbe Frage: Warum?

Iryna Zarutska war während der russischen Invasion in der Ukraine in die USA geflohen. In der U-Bahn wurde sie von einem Unbekannten grausam ermordet. Elsa Niyego, eine Jüdin aus Istanbul, wurde getötet, weil sie den Heiratsantrag eines Mannes, den sie nicht einmal kannte, abgelehnt hatte.[3]
Die Schandseiten der Weltgeschichte sind erfüllt von Massakern – von einzelnen Gewalttaten bis zu systematischen Vernichtungen. Das Entsetzen und die Fassungslosigkeit, die alle Opfer solcher Taten teilen, sollten den Hinterbliebenen die wichtigste Frage des Lebens eingeben: Warum?
Diese Frage nach dem „Warum“ ist nicht nur der Versuch einer Antwortsuche, sondern zugleich ein Antrieb, in eine neue Phase menschlicher Erkenntnis überzugehen.

Die moderne Gesellschaft, die sich ständig auf ihre Vergangenheit bezieht, zeigt nach dem 7. Oktober eine erschütternde Gleichgültigkeit, ja sogar aktive Unterstützung gegenüber einer neuen Schandseite der Geschichte, die sich direkt vor ihren Augen abspielt.
Diejenigen, die sich einst als Hüter von Menschenrechten und Demokratie sahen – und die ihnen nahestehenden Staaten in der Region – spielen heute im Völkermord eine aktive Rolle. Auch wenn sich das politische Klima und die öffentliche Sensibilität weltweit teilweise verändert haben, bleibt der sogenannte „Friedensplan“ im Kern ein Versuch, die Täter zu entlasten und die Besatzung als legitimen Ausgangspunkt zu deklarieren.
Denn jene, die diesen Genozid unterstützen, stellen nicht die Frage „Warum?“, sondern fragen sich, wie sie die Besatzung und Vernichtung des palästinensischen Volkes noch weiter vorantreiben können.

So hatte etwa der von Donald Trump vor der UNO vorgestellte „Friedensplan“ eine Sprache und Logik, die die Besatzung Gazas und den Völkermord zu legitimieren drohten.
Damit entstand sowohl für das unter einem unvorstellbaren Massenmord leidende Volk von Gaza als auch für alle Menschen weltweit, die sich ihrem Gewissen verpflichtet fühlen, das moralische Recht, die Frage „Warum?“ zu stellen.
Denn der Begriff „Friedensabkommen“ ist in diesem Zusammenhang eine Täuschung: Der vorgelegte Text ist weit davon entfernt, wirklich „Frieden“ oder „Einverständnis“ zu beinhalten.

Ein Abkommen setzt das gegenseitige Einverständnis beider Seiten voraus. Doch der Wille der Menschen in Gaza wird – ganz im Geiste jener früheren Rhetorik, die Palästinenser beim Bau der Grenzzäune als „wilde Tiere“ bezeichnete – vollständig negiert und sie werden als Ursache von Terror und Chaos diffamiert.
Dies dient zugleich dazu, Israel das Recht auf „legitime Selbstverteidigung“ zuzusprechen und die Grundlage für die juristische Verfolgung der Täter zu zerstören.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zwar zu zahlreichen Prozessen und Hinrichtungen, doch die politischen Propagandisten Israels erklärten diese stets für unzureichend.
Adolf Eichmann, der nach dem Krieg nach Argentinien geflohen war, wurde vom Mossad aufgespürt, nach Israel gebracht und dort hingerichtet – ein symbolischer Akt, der Israels weltpolitische Selbstbehauptung markierte.

Denn Israel verfügte über eine soziopolitische und theologische Grundlage, die weit über die bloße Besetzung Palästinas hinausging. Es hatte mächtige Kapitalnetzwerke vor allem in den USA, Großbritannien, Italien und Spanien aufgebaut.
Die Kontrolle über den Mittelmeerraum bedeutete nicht nur die Sicherung Israels, sondern auch den Aufbau einer „Verteidigungslinie“ gegen die angeblich „barbarischen“ Völker des Nahen Ostens.
Deshalb bekämpfte Israel stets jeden Versuch, in der Region – etwa in Türkei, Ägypten, Tunesien oder Libyen – eine Regierung zu etablieren, die nicht im Einklang mit westlichen Interessen stand.

Auch die Verlagerung von Kapitalströmen in den Osten stellt ein erhebliches Risiko dar, da das Erstarken asiatischer Mächte wie China, Russland oder Pakistan den einflussreichen jüdischen Lobbystrukturen im finanzpolitischen Feld Macht entzieht.
So erlitt etwa die Annäherungspolitik des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman an den Iran – ein historischer Schritt mit großem Potenzial für eine neue muslimische Führungsrolle nach Erdoğan – nach dem 7. Oktober einen deutlichen Rückschlag.
Die mögliche Abwanderung des Golfkapitals nach Asien wurde von Trump durch verschiedene politische und wirtschaftliche Hebel – auch mit Bezug auf die Türkei – gestoppt.

In dieser gesamten Gleichung hat Israel es geschafft, eine auf Opferstatus getarnte Legitimationsstrategie zu konstruieren, die die strafrechtliche Verfolgung der Täter des Gazagenozids auf internationaler Ebene verhindern wird.
Die politische Geschichtsschreibung, die unser kollektives Gedächtnis formt, zeigt ohnehin, dass kein Kriegsverbrecher, der im Sinne der herrschenden Mächte handelte, jemals wirklich zur Rechenschaft gezogen wurde.

Kein US-Präsident, der den Tod von Millionen in Afghanistan und Irak zu verantworten hat, wurde je verurteilt.
Im Gegenteil – sie galten aufgrund ihrer angeblichen Verdienste um die „Demokratie“ in vielen Ländern als respektable Staatsmänner.
Als die unter UN-Mandat stehenden niederländischen Truppen in Bosnien den serbischen Milizen freie Bahn ließen, wurden rund zehntausend Bosniaken massakriert.
Während Milosević als Auftraggeber des Genozids angeklagt wurde, galten diejenigen, die wegsahen oder passiv blieben, nicht als Täter.
Wären Mladić oder Karadžić in der Lage gewesen, ihre Verbrechen als Teil der „europäischen kulturellen Mission“ zu deklarieren, wären sie vielleicht sogar als Helden in Erinnerung geblieben.

Die Anklage gegen die israelische Regierung oder ihre militärischen Kräfte mag symbolisch von großer Bedeutung sein, doch birgt sie zugleich die Gefahr, die seit nahezu einem Jahrhundert andauernde Besatzung, den Völkermord und den in Arroganz gehüllten Zorn, den sie auch gegenüber dem eigenen Volk ausübten, zu verharmlosen, indem man die Schuld ausschließlich den heutigen Machtstrukturen zuschreibt.

Seit 1948 haben die israelischen Regierungen – ähnlich wie in den USA, wo Demokraten und Republikaner ungeachtet ihrer parteipolitischen Unterschiede in Fragen der Besatzung und des Massakers stets eine stabile Partnerschaft pflegen – dieselben politischen Reflexe hervorgebracht.
Die von Israel konstruierte und von den USA sowie den meisten europäischen Staaten übernommene Behauptung, das palästinensische Volk sei mörderisch, diebisch und barbarisch, wird die Vorschläge für eine Zweistaatenlösung jeder rationalen Grundlage berauben.

Unabhängig davon, ob sie Muslime oder Christen sind, verkörpern die Palästinenser eine symbolische Würde im Widerstand gegen jene Machtstrukturen, die innerhalb der Herrschafts- und Gehorsamsideologien der Regime gedeihen und die Welt in „Anpassung“ und „Auflehnung“ spalten.
Wir werden in einer Illusion auf die Probe gestellt, in der diejenigen, die sich anpassen und zum Sprachrohr der Ausbeutungssysteme werden, als Helden gelten, während jene, die im Namen von Recht und Gerechtigkeit Widerspruch erheben, als Aufrührer gebrandmarkt werden.

Quellen:
[1] Beevor, A. (2023). Arnhem: İkinci Dünya Savaşında Almanya’nın Son Zaferi. Übers. Arif Kaplan. Kronik.
[2] Ebd.
[3] https://www.perspektif.online/iki-cinayet-iki-cumhuriyet/