Europas innerer Zerfall
Das Vergessen des Schaffens
Alles dreht sich um Haltung und Fähigkeit. Der Wirtschaftshistoriker und diesjährige Nobelpreisträger Joel Mokyr schreibt in seinem 2016 erschienenen Buch A Culture of Growth („Eine Kultur des Wachstums“): „Die treibenden Kräfte des technologischen Fortschritts und letztlich der wirtschaftlichen Leistung waren Haltung und Fähigkeit.“
Haltung und Fähigkeit erklären, warum die USA und China die einzigen Supermächte des 21. Jahrhunderts sind. Und sie erklären ebenso, wo Europa den Fehler gemacht hat. Wir hatten die Fähigkeit – und haben sie in vieler Hinsicht immer noch. Aber wir haben die Haltung verloren. Wir sind zu globalen Tugendsignalisierern geworden, die schon vor langer Zeit ihren Appetit auf fortgeschrittene Forschung verloren haben.
China der 1990er Jahre hatte die Haltung, aber nicht die Fähigkeit. Um diese Lücke zu schließen, schickte es seine besten Studenten an westliche Universitäten. Die USA besitzen beides – Haltung und Fähigkeit – und werden daher noch lange eine dominierende Weltmacht bleiben.
Mokyr schreibt: „Wachstum, das sich allein auf eine Ethik der Kooperation stützt, versiegt schließlich, wenn es nicht von Innovationen und Produktivitätssteigerungen begleitet wird.“ Er kritisiert jene, die sich in unseren Gesellschaften als Intellektuelle verstehen und aus dem Bedürfnis nach Ansehen und Anerkennung ihrer Gleichgesinnten handeln. Es ist eine Selbstkritik an seinem eigenen Berufsstand – und zugleich eine Kritik an Pseudowissenschaften wie der Epidemiologie, die uns auf der Grundlage zweifelhafter Modelle und fragwürdiger Statistiken den Covid-Lockdown bescherten. Der Mathematiker und Autor Nassim Nicholas Taleb hat die Wirtschaftswissenschaft – ganz im Sinne Mokyrs – als einen „citation ring“, einen Zitationszirkel, bezeichnet.
Es gab eine Zeit, in der die Europäer sowohl Fähigkeit als auch Haltung besaßen. Aber das ist lange her. Gottlieb Daimler erfand 1885 das Automobil – wahrscheinlich das erfolgreichste Produkt des Industriezeitalters. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Auto unsere Lebensweise grundlegend veränderte. Das moderne Vorstadtleben wäre ohne es undenkbar. Besonders für die deutsche Wirtschaft war das Automobil über viele Jahrzehnte eine unerschöpfliche Quelle des Wohlstands – bis in dieses Jahrzehnt hinein. Nun ist dieser lange Innovationszyklus an seinem Ende. Deutschland hat zwar immer noch eine große Automobilindustrie, verdient damit aber kaum noch Geld. Die Zukunft des Autos ist elektrisch, digital – und vor allem chinesisch.
Der Computer war das einzige Produkt, das dem Auto in seiner wirtschaftlichen Wirkung gleichkam – und es sogar übertraf. Doch auch das dauerte lange. Erst in jüngerer Zeit begann der Computer, messbare Produktivitätszuwächse zu bringen. Die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz auf bestimmte Arbeitsmärkte sehen wir bereits. Wenn man Hochzeitsfotograf, freier Autor oder juristischer Assistent ist, sind das schlechte Nachrichten – denn diese Technologie wird Millionen mittelqualifizierter technischer Berufe verdrängen, auch wenn sie neue Arbeitsfelder schafft.
Als China in den 1980er Jahren unter Deng Xiaoping mit der Modernisierung begann, verfolgte es eine exportorientierte Wachstumsstrategie und investierte die daraus erzielten Einnahmen in Innovation und Modernisierung. Der Westen interpretierte diese Strategie fälschlicherweise als Übergang zu westlicher Demokratie oder zum Kapitalismus. In Wirklichkeit jedoch diente sie – selbst unter Deng – stets dazu, das kommunistische System zu stärken und widerstandsfähiger zu machen.
China widersetzte sich auch einem weiteren Dogma westlicher Wirtschaftspolitik – der Ansicht, dass Regierungen niemals „Gewinner“ auswählen sollten. Wer alt genug ist, erinnert sich, wie wir uns über die Fünfjahrespläne der Sowjetunion lustig machten. Doch als das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas in der vergangenen Woche den 15. Fünfjahresplan verabschiedete, lachte niemand. Gerade durch diese Fünfjahrespläne gelang es China, die deutsche Autoindustrie vom Thron zu stoßen und bei Technologien zur Umwandlung seltener Erden in für Hochleistungsmotoren unverzichtbare Magnete eine Monopolstellung zu erlangen. Wenn Europäer versuchen, Gewinner auszuwählen, wählen sie meist die Verlierer.
Ich erinnere mich an ein Gespräch Anfang der 2000er Jahre mit dem berühmten Ökonomen Edmund Phelps, der 2006 den Nobelpreis erhielt. Er wagte damals eine kühne Prognose: Deutschland werde gegenüber dem Rest der Welt – und insbesondere gegenüber dem übrigen Europa – zurückfallen. Der Grund, sagte er, sei Deutschlands Besessenheit von alten Technologien wie dem Automobil. Diese Vorhersage stand im Widerspruch zum damals weitverbreiteten Konsens, der Deutschland als tugendhaftes Vorbild pries. Phelps behielt recht – doch es dauerte zwanzig Jahre, bis der Niedergang Deutschlands für viele sichtbar wurde. Ebenso lange brauchte das Nobelkomitee, um die Bedeutung von Innovation und disruptivem Wandel zu erkennen.
Europa fällt seit vierzig Jahren in allen digitalen Bereichen zurück – zuerst hinter die USA, jetzt hinter China.
Die Europäische Union hat die Lage durch eine Reihe von Vorschriften, die digitale Technologien behindern, noch verschlimmert. Diese Belastung begann in den 2010er Jahren mit den Datenschutzbestimmungen und setzte sich bis zu den Regulierungen für künstliche Intelligenz und Kryptowährungen fort. Hinzu kamen Gesetze, die die Geschäftstätigkeit der amerikanischen Technologiegiganten einschränkten und soziale Medienplattformen dazu zwangen, ihre Inhalte zu überwachen. In Europa gibt es immer noch gute Ingenieure – aber wir sind eine digitale Wüste.
Was China früh erkannte und was Europäer besonders zu leugnen neigen, ist die Verbindung zwischen Innovation und geopolitischer Macht. Interessanterweise teilen das kapitalistische Amerika und das kommunistische China Mokyrs Weltbild, während der sozialliberale Konsens in Europa und Kanada auf der anderen – also der verlierenden – Seite steht. Die Tragödie des politischen Zentrums besteht darin, dass die radikalen Elemente an den Rändern des politischen Spektrums Innovation gegenüber aufgeschlossener sind.
Wo lässt sich diese Verbindung beobachten? Während die USA und ihre Verbündeten bei fortgeschrittenen Halbleitern dominieren, hat China die Kontrolle über seltene Erden und deren Folgeprodukte erlangt. Daher sind beide Supermächte geopolitisch in der Lage, sich gegenseitig die Luft zum Atmen zu nehmen. Das Abkommen zwischen Xi und Donald Trump in der vergangenen Woche war in einem anhaltenden Kalten Krieg eine Art Waffenstillstand.
Die wichtigste Verbindung zwischen Innovation und geopolitischer Macht verläuft jedoch eindeutig über den militärischen Bereich. Die heutige geopolitische Überlegenheit der USA beruht auf der Zusammenarbeit zwischen Militär und Wissenschaft in der Nachkriegszeit. In dieser Zeit wurde das Militär zum größten Förderer und Kunden der schnellen technischen Entwicklungen des Elektronikzeitalters. Das Internet basierte auf einem Kommunikationsprotokoll, das für das US-Militär entwickelt wurde – eine Technologie, die es ermöglichte, Daten über alternative Kanäle umzuleiten, wenn ein Kanal physisch unterbrochen war. Der wichtigste Algorithmus des 20. Jahrhunderts, die Diskrete Fourier-Transformation, die die Existenz moderner digitaler Geräte möglich machte, entstand, als ein Wissenschaftler im Weißen Haus einen Weg suchte, die Signale sowjetischer unterirdischer Atomtests schneller zu identifizieren.
Es ist klar, dass Europa seine geopolitische Vormachtstellung nicht zurückgewinnen kann. Aber es gibt zweitbeste Strategien. Zum Beispiel wird der größte Nutzen der künstlichen Intelligenz nicht aus ihrer Produktion, sondern aus ihrer Anwendung entstehen. Einige KI-Algorithmen sind Open Source. Theoretisch sollte Europa also immer noch eine Chance haben. Praktisch gesehen jedoch nicht. Die Technologieregulierung behindert nicht nur KI-Start-ups, sondern auch die breitere Nutzung der KI. Genau das meinte Mokyr mit „Einstellung und Fähigkeit“. Um erfolgreich zu sein, braucht man beides. Europas Einstellung ist jedoch innovationsfeindlich. Lassen Sie sich nicht vom übertriebenen Programm Horizon Europe täuschen – es handelt sich um ein „pork barrel“-Ausgabenprogramm für zweitklassige Universitäten. Europäer sehen sich gern als innovativ und „wissenschaftsfreundlich“ – aber sie bleiben hinter den USA und China zurück. Europas Prioritäten liegen darin, Arbeitnehmer und bestehende Industrien zu schützen.
Außerhalb der EU sieht das Bild etwas besser aus. Das große europäische Land mit dem größten Erfolgspotenzial in dieser Kategorie ist Großbritannien. Großbritannien liegt bei Investitionen in künstliche Intelligenz weit vor der EU. Nach dem Brexit beteiligte sich das Land nicht an der generalisierten technikfeindlichen Mobilisierung der EU. Großbritannien ist ein Land mit einer hohen Dichte an Forschungsuniversitäten, die auf die Wissenschaften des 21. Jahrhunderts spezialisiert sind. Eine der spannendsten Perspektiven ist die Entwicklung eines Wissenschaftskorridors zwischen Oxford und Cambridge. Das wird lange dauern – aber es ist der richtige Weg.
Seit dem 19. Jahrhundert lehrt uns die Geschichte der Innovation zwei wichtige Lektionen. Erstens: Die wirtschaftlichen Erträge von Innovationen sind enorm und können über 100 Jahre anhalten. Die großen europäischen Erfindungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren kein Zufall, sondern das Ergebnis von Einstellung und Fähigkeit. Die zweite Lektion – die Deutschland derzeit auf die harte Tour lernt – lautet: Wenn man aufhört, Innovationen hervorzubringen, ist alles vorbei.
An diesem Punkt kommt die andere Hälfte des diesjährigen Nobelpreises für Wirtschaft ins Spiel. Der Preis ging an Philippe Aghion und Peter Howitt für die Entwicklung eines wirtschaftlichen Modells der „schöpferischen Zerstörung“. Dieser Begriff wurde 1942 vom österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter geprägt. Schöpferische Zerstörung ist der Mechanismus, der es neuen Innovationen ermöglicht, die alten zu ersetzen. Wie jeder Gärtner weiß, muss man das Alte sterben lassen, damit Neues wachsen kann. In der Mainstream-Ökonomie ist das ein umstrittener Gedanke. In der europäischen Politik ist es ein verfluchter.
Daimlers Erfindung kann man noch heute in einem Museum in Stuttgart sehen. Wenn Sie den Geist längst verlorener Einstellung und Fähigkeit atmen wollen, ist das der richtige Ort. In den Bereichen, in denen Europa heute noch überragend ist, handelt es sich um Museen und historische Gebäude der Kategorie A.
*Wolfgang Münchau ist Direktor von Eurointelligence und Kolumnist bei UnHerd.
Quelle: https://unherd.com/2025/11/the-rot-at-the-heart-of-europe/