Europas Düstre Zukunft
Die durch den Ukrainekrieg ausgelöste Katastrophe und die langfristige Veränderung der amerikanischen Interessen schwächen die Aussicht auf ein stabileres und wohlhabenderes Europa.
Diese Rede wurde am 11. November 2025 im Europäischen Parlament in Brüssel gehalten.
Europa befindet sich heute in einer tiefen Krise; der Hauptgrund dafür ist der Krieg in der Ukraine, der die Stabilität dieser zuvor weitgehend friedlichen Region erschüttert hat. Leider ist eine Verbesserung der Lage in den kommenden Jahren nicht zu erwarten. Tatsächlich ist es wahrscheinlich, dass Europa in Zukunft sogar noch weniger stabil sein wird als heute.
Die gegenwärtige Situation in Europa steht in starkem Kontrast zu der beispiellosen Stabilität, die der Kontinent nach dem Zerfall der Sowjetunion während der unipolaren Phase zwischen etwa 1992 und 2017 erlebte. Diese Unipolarität verwandelte sich 2017 in eine Multipolarität, als China und Russland als Großmächte auftraten. Wir alle erinnern uns an Francis Fukuyamas berühmten Aufsatz von 1989 – The End of History? Darin behauptete er, dass sich die liberale Demokratie weltweit durchsetzen und Frieden und Wohlstand bringen würde. Dieses Argument war offensichtlich völlig falsch, aber viele im Westen glaubten mehr als zwanzig Jahre lang daran. Auf dem Höhepunkt der unipolaren Ära konnten sich nur wenige Europäer vorstellen, dass Europa heute in einer so tiefen Krise stecken würde.
Was ist also schiefgelaufen?
Der Hauptgrund für die heutige Unsicherheit in Europa ist der Krieg in der Ukraine, den – wie ich darlegen werde – der Westen, insbesondere die USA, provoziert hat. Darüber hinaus gibt es jedoch einen zweiten Faktor: der Übergang von der Unipolarität zur Multipolarität im Jahr 2017, der zu einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses führte und zwangsläufig die europäische Sicherheitsarchitektur bedrohte. Dennoch gab es gute Gründe anzunehmen, dass dieser Wandel in der Machtverteilung ein beherrschbares Problem darstellen würde. Doch der Ukrainekrieg in Verbindung mit der neuen multipolaren Ordnung hat ernste Probleme geschaffen, die auf absehbare Zeit nicht verschwinden werden.
Zunächst möchte ich erklären, wie das Ende der Unipolarität die Grundlagen europäischer Stabilität bedroht. Anschließend diskutiere ich die Auswirkungen des Ukrainekrieges auf Europa und wie sie zusammen mit dem Übergang zur multipolaren Weltordnung die europäische Landschaft tiefgreifend verändert haben.
Der Übergang von der Unipolarität zur Multipolarität
Während des Kalten Krieges in Westeuropa und während der unipolaren Phase in ganz Europa bestand der Schlüssel zur Aufrechterhaltung der Stabilität in der militärischen Präsenz der USA innerhalb der NATO. Die USA dominierten dieses Bündnis von Anfang an – mit der Folge, dass es für die unter dem amerikanischen Sicherheitsschirm stehenden Mitgliedstaaten fast unmöglich wurde, gegeneinander Krieg zu führen. De facto waren die USA in Europa eine mächtige beruhigende Kraft. Die heutigen europäischen Eliten erkennen diese einfache Tatsache an, was erklärt, warum sie so sehr auf der Präsenz amerikanischer Truppen in Europa und dem Fortbestand der von den USA dominierten NATO bestehen.
Als der Kalte Krieg endete und die Sowjetunion begann, ihre Truppen aus Osteuropa abzuziehen und den Warschauer Pakt aufzulösen, ist zu beachten, dass Moskau gegen den Fortbestand der US-dominierten NATO nicht protestierte. Wie die Westeuropäer verstanden auch die sowjetischen Führer die Logik der beruhigenden Macht und schätzten sie. Gegen die NATO-Erweiterung jedoch wandten sie sich entschieden – darauf komme ich später zurück.
Manche behaupten, die eigentliche Ursache der Stabilität in Europa während der unipolaren Phase sei nicht die NATO, sondern die Europäische Union (EU) gewesen, weshalb im Jahr 2012 auch die EU und nicht die NATO den Friedensnobelpreis erhielt. Doch das ist falsch. Die EU ist zwar eine äußerst erfolgreiche Institution, doch beruht ihr Erfolg auf dem von der NATO gewährleisteten Frieden. Um Marx’ berühmtes Diktum umzudrehen: Die politisch-militärische Institution bildet die Basis, während die wirtschaftliche Institution den Überbau darstellt. All dies bedeutet, dass ohne die beruhigende Macht der USA nicht nur die NATO verschwinden, sondern auch die EU erheblich geschwächt würde.
Zwischen 1992 und 2017 war die USA eindeutig die stärkste Macht im internationalen System und konnte problemlos eine bedeutende militärische Präsenz in Europa aufrechterhalten. Die außenpolitischen Eliten wollten nicht nur die NATO bewahren, sondern sie durch eine Erweiterung nach Osteuropa sogar ausbauen.
Doch mit dem Aufkommen der Multipolarität war diese unipolare Welt zu Ende. Die USA waren nicht länger die einzige Großmacht. Auch China und Russland waren zu Großmächten geworden – was bedeutete, dass amerikanische Entscheidungsträger die Welt nun anders betrachten mussten.
Um zu verstehen, was die Multipolarität für Europa bedeutet, muss man sich die Machtverteilung unter den drei Großmächten ansehen. Die USA sind weiterhin das stärkste Land der Welt, aber China holt rasch auf und wird inzwischen weithin als ebenbürtiger Rivale betrachtet. Seit Anfang der 1990er Jahre hat Chinas riesige Bevölkerung und sein außergewöhnliches Wirtschaftswachstum das Land zu einem potenziellen Hegemon in Ostasien gemacht. Für die USA, die bereits Hegemon der westlichen Hemisphäre sind, ist es höchst besorgniserregend, wenn eine andere Großmacht versucht, in Ostasien oder Europa Hegemonie zu erlangen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA beide Weltkriege geführt haben, um zu verhindern, dass Deutschland und Japan zu regionalen Hegemonen in Europa bzw. Ostasien werden. Diese Logik gilt heute weiterhin.
Russland ist die schwächste der drei Großmächte und stellt – entgegen der weit verbreiteten europäischen Auffassung – weder eine Bedrohung dar, die gesamte Ukraine zu erobern, noch Osteuropa zu überrennen. Schließlich hat es die letzten dreieinhalb Jahre damit verbracht, die Kontrolle über ein Fünftel der Ostukraine zu erlangen. Die russische Armee ist nicht die Wehrmacht, und Russland ist – anders als die Sowjetunion im Kalten Krieg oder China heute – kein potenzieller regionaler Hegemon.
Angesichts dieser globalen Machtverteilung ist es für die USA eine strategische Notwendigkeit, China einzudämmen und dessen Aufstieg zur Hegemonialmacht in Ostasien zu verhindern. Da Russland jedoch keine Bedrohung darstellt, in Europa die Vorherrschaft zu erringen, gibt es keinen überzeugenden strategischen Grund dafür, dass die USA weiterhin bedeutende militärische Kräfte in Europa stationieren. Die Verlagerung von Ressourcen nach Europa bedeutet im Gegenteil, dass weniger Ressourcen für Ostasien zur Verfügung stehen. Diese grundlegende Logik erklärt die amerikanische Asien-Pivot-Politik. Wer sich einer Region zuwendet, wendet sich zwangsläufig von einer anderen ab – und diese Region ist Europa.
Es gibt noch eine weitere, mit dem globalen Kräfteverhältnis nicht unmittelbar zusammenhängende Dimension, die die US-Verpflichtung zur Aufrechterhaltung einer bedeutenden militärischen Präsenz in Europa zusätzlich schwächt. Konkret verfügt die USA über eine historisch einzigartige Sonderbeziehung zu Israel. Aufgrund der enormen Macht der Israel-Lobby in den USA unterstützen amerikanische Politiker Israel bedingungslos; dies bedeutet nicht nur umfangreiche Waffenlieferungen, sondern auch die direkte oder indirekte Beteiligung an Israels Kriegen. Kurz gesagt: Die USA werden weiterhin beachtliche militärische Ressourcen Israel und dem Nahen Osten widmen. Diese Verpflichtung gegenüber Israel schafft einen zusätzlichen Anreiz für die USA, ihre Truppen in Europa zu reduzieren und die Europäer zu ermutigen, ihre Sicherheit selbst zu gewährleisten.
Insgesamt haben die starken strukturellen Faktoren, die mit dem Übergang von der Unipolarität zur Multipolarität verbunden sind, sowie die außerordentliche amerikanisch-israelische Beziehung das Potenzial, die Rolle der USA als beruhigende Macht in Europa zu schwächen oder gar zu beseitigen und die NATO zu lähmen – mit offensichtlich schweren Folgen für die europäische Sicherheit. Dennoch ist es möglich, den Rückzug der USA aus Europa zu verhindern, was zweifellos das Ziel fast aller europäischen Staats- und Regierungschefs ist. Doch dieses Ergebnis erfordert kluge Strategien und geschickte Diplomatie auf beiden Seiten des Atlantiks. Bislang aber ist das Gegenteil eingetreten. Stattdessen haben Europa und die USA durch den riskanten Versuch, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, einen Krieg mit Russland provoziert – einen Krieg, den sie nicht gewinnen können – und damit sowohl die Wahrscheinlichkeit der amerikanischen Abwendung von Europa als auch die Gefahr einer handlungsunfähigen NATO erheblich erhöht. Lassen Sie mich das erläutern.
Wer hat den Ukrainekrieg begonnen? – Die konventionelle Sicht
Um die Folgen des Ukrainekrieges vollständig zu verstehen, ist es entscheidend, seine Ursachen zu betrachten; denn der Grund, warum Russland die Ukraine im Februar 2022 angriff, sagt viel über die Kriegsziele Russlands und die langfristigen Auswirkungen des Krieges aus.
Die konventionelle Sicht im Westen lautet, dass Wladimir Putin für den Krieg verantwortlich ist. Nach dieser Sichtweise will Putin die gesamte Ukraine erobern und in ein Großrussland eingliedern. Wenn er dieses Ziel erreicht, werde Russland – ähnlich wie die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Imperium in Osteuropa errichten. In diesem Narrativ stellt Putin eine tödliche Bedrohung für den Westen dar und muss entschieden gestoppt werden. Kurz gesagt: Putin sei ein imperialer Akteur mit einem umfassenden Masterplan – ganz in der Tradition der russischen Geschichte. Doch dieses Narrativ ist von gravierenden Problemen durchzogen. Ich nenne fünf davon.
Erstens gibt es vor dem 24. Februar 2022 keinerlei Beweise dafür, dass Putin die gesamte Ukraine erobern und Russland einverleiben wollte. Befürworter der konventionellen Sicht können keinen einzigen Text oder keine einzige Rede nennen, in der Putin sagt, eine solche Eroberung sei erstens wünschenswert, zweitens machbar und drittens beabsichtigt.
Wird diese Sicht infrage gestellt, verweisen ihre Vertreter gewöhnlich auf Putins Behauptung, die Ukraine sei ein „künstlicher“ Staat, und insbesondere auf seine Auffassung, Russen und Ukrainer seien „ein Volk“ – ein zentrales Thema seines bekannten Artikels vom 12. Juli 2021. Doch diese Aussagen sagen nichts darüber aus, warum Putin einen Krieg beginnen würde. Tatsächlich enthält dieser Artikel bemerkenswerte Belege dafür, dass Putin die Ukraine als unabhängigen Staat anerkennt. So wendet er sich an das ukrainische Volk mit den Worten: „Ihr wollt euren eigenen Staat gründen: bitte sehr!“ Und er schreibt über den russischen Umgang mit der Ukraine: „Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.“ Der lange Artikel endet mit dem Satz: „Es ist Sache der Bürger der Ukraine zu entscheiden, wie ihr Staat aussehen soll.“
In derselben Analyse und erneut in einer wichtigen Rede vom 21. Februar 2022 betonte Putin, dass Russland die „neue geopolitische Realität nach dem Zerfall der UdSSR“ akzeptiere. Diesen Punkt wiederholte er ein drittes Mal, als er am 24. Februar 2022 den Angriff auf die Ukraine ankündigte. All diese Aussagen stehen in direktem Widerspruch zu der Behauptung, Putin wolle die Ukraine erobern und in ein Großrussland eingliedern.
Zweitens verfügte Putin nicht über genügend Truppen, um die Ukraine zu erobern. Nach meiner Einschätzung fiel Russland mit höchstens 190.000 Soldaten in die Ukraine ein. Der derzeitige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyj, weist sogar darauf hin, dass die russische Invasionsarmee lediglich 100.000 Soldaten umfasste. Eine Streitmacht von 100.000 oder 190.000 Soldaten kann die gesamte Ukraine unmöglich erobern, besetzen und in ein Großrussland integrieren. Man denke nur daran, dass die Wehrmacht am 1. September 1939 über etwa 1,5 Millionen Soldaten verfügte, als Deutschland die westliche Hälfte Polens angriff. Die Ukraine ist flächenmäßig dreimal so groß wie die westliche Hälfte Polens im Jahr 1939, und ihre Bevölkerung war 2022 fast doppelt so groß wie jene des von Deutschland besetzten Polens. Wenn die Schätzung General Syrskyjs – dass 2022 nur 100.000 russische Soldaten die Ukraine betraten – zutrifft, bedeutet dies, dass Russland nur ein Fünfzehntel der Truppenstärke Deutschlands bei dessen Einmarsch in Polen aufbot. Und diese kleine russische Armee hatte es mit einem Land zu tun, das sowohl flächenmäßig als auch bevölkerungsmäßig weit größer war als die westliche Hälfte Polens.
Manche mögen einwenden, die russische Führung habe geglaubt, die ukrainische Armee sei so klein und schlecht bewaffnet, dass die eigenen Truppen das Land mühelos erobern könnten. Doch das ist nicht zutreffend. Tatsächlich wusste Putin seit dem Ausbruch der Krise am 22. Februar 2014 genau, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten die ukrainische Armee ausbildeten und ausrüsteten. Moskaus größte Sorge bestand gerade darin, dass die Ukraine faktisch zu einem NATO-Mitglied würde. Zudem war der russischen Führung bewusst, dass die ukrainischen Streitkräfte – größer als die russische Invasionsarmee – seit 2014 im Donbass effektiv gekämpft hatten. Vor allem dank starker westlicher Unterstützung war klar, dass die ukrainische Armee keineswegs ein schnell zu besiegender „Papiertiger“ war. Putins Ziel war es vielmehr, in kurzer Zeit begrenzte Geländegewinne zu erzielen und die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen — was auch geschah. Damit kommen wir zum dritten Punkt.
Unmittelbar nach Kriegsbeginn nahm Russland Kontakt zur Ukraine auf und bot Gespräche an, um den Krieg zu beenden und einen modus vivendi zwischen beiden Staaten herzustellen. Dieser Schritt widerspricht erneut der Behauptung, Putin wolle die Ukraine erobern und in Großrussland eingliedern. Die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau begannen bereits vier Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen in Belarus. Der belarussische Verhandlungskanal wurde später durch Vermittlungen in Israel und Istanbul ersetzt. Die verfügbaren Daten zeigen, dass die Russen die Gespräche ernsthaft führten und – mit Ausnahme der 2014 annektierten Krim und wahrscheinlich des Donbass – kein Interesse an einer Annexion ukrainischen Territoriums hatten. Die Verhandlungen endeten, als die Ukrainer auf Drängen Großbritanniens und der USA den Tisch verließen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits erhebliche Fortschritte erzielt worden.
Putin erklärte außerdem, dass während laufender und vielversprechender Verhandlungen als Geste des guten Willens ein Rückzug der russischen Truppen um Kiew gewünscht worden sei — was er am 29. März 2022 tatsächlich veranlasste. Keine westliche Regierung und kein ehemaliger westlicher Beamter hat dieser Aussage Putins – die direkt im Widerspruch zu der Behauptung steht, er sei entschlossen gewesen, die gesamte Ukraine zu erobern – ernsthaft widersprochen.
Viertens versuchte Putin in den Monaten vor Kriegsbeginn, eine diplomatische Lösung für die sich abzeichnende Krise zu finden. Am 17. Dezember 2021 sandte Putin sowohl an Präsident Joe Biden als auch an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Brief, in dem er einen schriftlich garantierten Kompromiss vorschlug: 1) Die Ukraine würde nicht der NATO beitreten; 2) Angriffswaffen würden nicht in der Nähe der russischen Grenzen stationiert; und 3) NATO-Truppen und -Ausrüstung, die seit 1997 in Osteuropa stationiert waren, würden nach Westeuropa zurückverlegt. Ob ein solcher Kompromiss auf Grundlage dieser Forderungen umsetzbar gewesen wäre, kann diskutiert werden — doch Putins Vorstoß zeigt eindeutig, dass er einen Krieg vermeiden wollte. Die USA weigerten sich jedoch, mit Putin zu verhandeln und schienen kaum Interesse daran zu haben, den Krieg zu verhindern.
Fünftens gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Putin plante, außer der Ukraine weitere Staaten Osteuropas zu erobern. Das ist auch wenig überraschend, weil die russische Armee nicht einmal groß genug ist, um die gesamte Ukraine zu besetzen — geschweige denn die baltischen Staaten, Polen oder Rumänien zu erobern. Zudem sind all diese Länder NATO-Mitglieder, was nahezu unweigerlich einen Krieg mit den USA und deren Verbündeten bedeuten würde.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Europa — und zweifellos auch im Europäischen Parlament — weithin die Ansicht vorherrscht, Putin sei seit Langem fest entschlossen, die gesamte Ukraine und anschließend weitere Länder westlich davon zu erobern. Doch sämtliche verfügbaren Beweise widersprechen dieser Auffassung.
Die eigentliche Ursache des Ukrainekriegs
Tatsächlich waren die USA und ihre Verbündeten in Europa diejenigen, die den Krieg provozierten. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Russland nicht derjenige war, der durch seinen Einmarsch den Krieg begann. Doch die grundlegende Ursache des Konflikts ist die Entscheidung der NATO, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen — eine Entwicklung, die fast alle russischen Führer als existenzielle Bedrohung betrachteten und die ihrer Ansicht nach um jeden Preis verhindert werden musste.
Aber die NATO-Erweiterung ist nicht das ganze Problem; sie ist Teil einer breiteren Strategie, die Ukraine in einen prowestlichen Vorposten an Russlands Grenze zu verwandeln. Die Integration Kiews in die Europäische Union (EU) und die Förderung einer „farbigen Revolution“ in der Ukraine, um das Land in eine prowestliche liberale Demokratie umzuwandeln, bilden die beiden weiteren Säulen dieser politischen Ausrichtung. Die russische Führung fühlt sich durch alle drei Maßnahmen bedroht, fürchtet jedoch besonders die NATO-Erweiterung. Putin formulierte es so: „Russland kann sich angesichts einer dauerhaften Bedrohung durch das heutige ukrainische Territorium nicht sicher fühlen, nicht entwickeln und nicht existieren.“ Im Kern ging es Putin also nicht darum, die Ukraine zu einem Teil Russlands zu machen, sondern darum, zu verhindern, dass sie zu einem „Sprungbrett“ westlicher Aggression gegen Russland wird. Deshalb begann Putin am 24. Februar 2022 einen Präventivkrieg.
Was spricht nun für die These, dass die NATO-Erweiterung die Hauptursache des Ukrainekriegs ist?
Erstens haben russische Führer vor Kriegsbeginn unzählige Male betont, dass die NATO-Erweiterung Richtung Ukraine eine existenzielle Bedrohung darstelle. Putin äußerte dieses Argument in vielen öffentlichen Erklärungen vor dem 24. Februar 2022. Auch andere russische Entscheidungsträger wie der Verteidigungsminister, der Außenminister, der stellvertretende Außenminister oder der russische Botschafter in Washington betonten wiederholt, dass die NATO-Erweiterung der Kern des Problems sei. Außenminister Sergej Lawrow brachte dies am 14. Januar 2022 in einer Pressekonferenz unmissverständlich auf den Punkt: „Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass die NATO nicht weiter nach Osten expandiert.“
Zweitens zeigen die Entwicklungen nach Kriegsbeginn klar, wie zentral die russische Angst vor einem NATO-Beitritt der Ukraine war. Bei den Istanbuler Verhandlungen kurz nach Beginn der Invasion machten die Russen deutlich, dass die Ukraine „permanente Neutralität“ akzeptieren und nicht der NATO beitreten müsse. Die Ukrainer stimmten dieser Forderung zu, da sie wussten, dass ohne dies kein Frieden möglich sein würde. Noch jüngst, am 14. Juni 2024, präsentierte Putin seine Bedingungen für ein Kriegsende. Eine zentrale Forderung war, dass Kiew „offiziell auf seine Pläne zum NATO-Beitritt verzichtet“. Nichts davon überrascht — Russland hat den ukrainischen NATO-Beitritt stets als existenzielle Bedrohung betrachtet, die unter allen Umständen verhindert werden müsse.
Drittens warnten im Westen zahlreiche einflussreiche und angesehene Persönlichkeiten bereits vor Kriegsbeginn, dass insbesondere die NATO-Erweiterung Richtung Ukraine von der russischen Führung als tödliche Bedrohung wahrgenommen werde und letztlich zu einer Katastrophe führen könne.
Vor kurzem zum CIA-Direktor ernannt, aber im April 2008 während des NATO-Gipfels in Bukarest US-Botschafter in Moskau, schilderte William Burns in einem Memorandum an Außenministerin Condoleezza Rice eindeutig, wie die Russen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO bewerten würden. Burns schrieb: „Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ist für die russischen Eliten (nicht nur für Putin) die deutlichste aller roten Linien.“ Er betonte, dass unter allen russischen Offiziellen, mit denen er in zweieinhalb Jahren gesprochen habe — von den „primitiven Typen“ in den dunklen Korridoren des Kreml bis zu Putins schärfsten liberalen Gegnern — niemand die Vorstellung geäußert habe, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine nicht als direkte Bedrohung russischer Interessen gesehen würde. Burns sagte voraus, dass dieser Schritt der NATO als „strategische Herausforderung“ wahrgenommen werde, dass das heutige Russland darauf reagieren werde, dass die russisch-ukrainischen Beziehungen in eine Phase „tiefer Eiszeit“ eintreten würden und dass dies einen fruchtbaren Boden für eine russische Intervention auf der Krim und in der Ostukraine schaffen würde.
Burns war 2008 keineswegs der einzige westliche Politiker, der erkannte, dass eine Öffnung der NATO gegenüber der Ukraine voller Gefahren steckte. So lehnten etwa die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy auf dem Bukarester Gipfel Fortschritte im NATO-Beitrittsprozess der Ukraine ab, weil sie wussten, dass dies Russland alarmieren und verärgern würde. Merkel erklärte dies kürzlich wie folgt: „Ich war mir sehr sicher, dass Putin dem nicht einfach zuschauen würde … Aus seiner Sicht bedeutete das eine Kriegserklärung.“
Zudem ist zu erwähnen, dass Jens Stoltenberg, der ehemalige Generalsekretär der NATO, zweimal vor seinem Ausscheiden aus dem Amt Folgendes sagte: „Präsident Putin hat diesen Krieg begonnen, um die Tür der NATO zu schließen und der Ukraine das Recht zu nehmen, ihren eigenen Weg zu wählen.“ Dieser bemerkenswerten Aussage hat im Westen praktisch niemand widersprochen, und Stoltenberg hat seine Worte nie zurückgenommen.
Wenn man noch etwas weiter zurückgeht, wird deutlich, dass viele amerikanische Entscheidungsträger und Strategen schon in den 1990er-Jahren dagegen waren, als US-Präsident Bill Clinton über die Entscheidung zur NATO-Erweiterung diskutierte. Diese Gegner hatten von Anfang an verstanden, dass russische Führungspersonen diese Erweiterung als Bedrohung ihrer vitalen Interessen wahrnehmen würden und dass diese Politik letztlich in eine Katastrophe führen könnte. Zu diesen einflussreichen Kritikern gehörten unter anderem: George Kennan; Clintons Verteidigungsminister William Perry und der Generalstabschef General John Shalikashvili; Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock.
Die Logik hinter Putins Haltung sollte Amerikanern, die lange an der Monroe-Doktrin festgehalten haben, eigentlich vertraut erscheinen. Die Monroe-Doktrin besagt, dass keine weit entfernte Großmacht ein Militärbündnis mit einem Staat in der westlichen Hemisphäre eingehen und dort Truppen stationieren dürfe. Die USA betrachten einen solchen Schritt als existentielle Bedrohung und unternehmen alles, um diese Gefahr zu beseitigen. Genau dies geschah 1962 in der Kubakrise: Präsident John F. Kennedy machte der sowjetischen Führung unmissverständlich klar, dass sie ihre nuklear bestückten Raketen aus Kuba abzuziehen habe. Putin wird von dieser Logik tief beeinflusst. Letztlich wollen Großmächte nicht, dass andere Großmächte militärische Streitkräfte in der Nähe ihres eigenen Territoriums stationieren.
Befürworter einer Aufnahme der Ukraine in die NATO behaupten gelegentlich: „Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar.“ Russische Führungspersonen jedoch sehen die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht so, und entscheidend ist, was sie denken. Kurz gesagt: Es ist offensichtlich, dass Putin den NATO-Beitritt der Ukraine als unvermeidbare existentielle Bedrohung ansieht und bereit ist, deshalb Krieg zu führen — was er am 24. Februar 2022 auch tat.
Der bisherige Verlauf des Krieges
Ich möchte nun auf den Kriegsverlauf eingehen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Istanbul im April 2022 verwandelte sich der Konflikt in der Ukraine in einen Abnutzungskrieg, der deutliche Ähnlichkeiten mit der Westfront des Ersten Weltkriegs aufweist. Dieser Krieg war ein äußerst brutaler und zerstörerischer Machtkampf und dauert nun seit über dreieinhalb Jahren an. In dieser Zeit hat Russland zusätzlich zur 2014 annektierten Krim vier weitere ukrainische Oblaste offiziell annektiert. Faktisch kontrolliert Russland inzwischen rund 22 % des ukrainischen Territoriums — alles Regionen im Osten des Landes.
Der Westen hat der Ukraine seit dem Kriegsbeginn 2022 enorme Unterstützung zukommen lassen, alles außer einer direkten militärischen Beteiligung. Daher ist es kein Zufall, dass russische Führungspersonen glauben, ihr Land befinde sich im Krieg mit dem Westen. Allerdings ist Trump fest entschlossen, die Rolle der USA in diesem Krieg drastisch einzuschränken und die Last der Unterstützung der Ukraine auf Europa abzuwälzen.
Russland hat im Krieg eindeutig die Oberhand und wird wahrscheinlich gewinnen. Der Grund ist einfach: In einem Abnutzungskrieg versuchen die Parteien, einander zu erschöpfen; das bedeutet, dass diejenige Seite mit mehr Soldaten und mehr Feuerkraft die besseren Chancen auf den Sieg hat. Russland hat in beiden Bereichen erhebliche Vorteile. So sagt Syrskyj, dass Russland derzeit dreimal so viele Soldaten in den Krieg schickt wie die Ukraine und dass die russischen Truppen an einigen Frontabschnitten ein Verhältnis von 6:1 gegenüber den Ukrainern erreichen. Verschiedene Berichte bestätigen zudem, dass die Ukraine nicht genug Personal hat, um alle Frontlinien angemessen zu verteidigen, was es Russland gelegentlich ermöglicht, die ukrainischen Verteidigungen leicht zu durchbrechen.
Hinsichtlich der Feuerkraft wurde Russlands Artillerieüberlegenheit — ein entscheidendes Element in Abnutzungskriegen — wiederholt mit 3:1, 7:1 oder sogar 10:1 angegeben. Russland verfügt zudem über ein riesiges Arsenal an hochpräzisen lenkbaren Bomben, die es mit tödlicher Wirksamkeit gegen ukrainische Stellungen einsetzt, während Kiew kaum über vergleichbare Kapazitäten verfügt. Die Ukraine besitzt zwar eine hochwirksame Drohnenflotte — anfangs sogar wirksamer als die russische —, doch Russland hat dies im vergangenen Jahr umgekehrt und verfügt nun bei Drohnen, Artilleriesystemen und lenkbaren Bomben über die Oberhand.
Es ist für Kiew praktisch unmöglich, sein Personalproblem zu lösen, da die ukrainische Bevölkerung viel kleiner ist als die russische und das Land mit Desertion und Fahnenflucht zu kämpfen hat. Ebenso kann die Ukraine das Ungleichgewicht bei den Waffen nicht ausgleichen; Russland verfügt über eine robuste industrielle Basis, die große Mengen an Waffen herstellen kann, während die industrielle Basis der Ukraine äußerst schwach ist. Um diese Lücke zu schließen, ist die Ukraine stark auf westliche Waffenlieferungen angewiesen — doch die westlichen Staaten verfügen nicht über die Produktionskapazitäten, um mit Russland mitzuhalten. Und Trump verlangsamt die US-Lieferungen zusätzlich.
Das Ergebnis: Die Ukraine ist sowohl an Waffen als auch an Personal schwer unterlegen — ein tödlicher Nachteil in einem Abnutzungskrieg. Hinzu kommt, dass Russland über ein großes Arsenal an Raketen und Drohnen verfügt, um tief im Inneren der Ukraine kritische Infrastruktur und Waffenlager zu treffen. Zwar kann die Ukraine auch Ziele in Russland angreifen, doch ist ihre Schlagkraft bei Weitem nicht vergleichbar. Außerdem haben solche Angriffe kaum Auswirkungen auf die entscheidenden Frontabschnitte, an denen dieser Krieg entschieden wird.
Die Aussicht auf eine friedliche Lösung
Wie steht es also um eine friedliche Lösung? Im Verlauf des Jahres 2025 wurde viel darüber diskutiert, ob eine diplomatische Lösung zur Beendigung des Krieges möglich sei. Ein wesentlicher Grund dafür ist Trumps Versprechen, den Krieg noch vor oder kurz nach seinem Einzug ins Weiße Haus zu beenden. Doch Trump ist ganz offensichtlich gescheitert — er ist nicht einmal in die Nähe eines Erfolgs gekommen. Die bittere Wahrheit ist: Es gibt keinerlei Hoffnung auf ein sinnvolles Friedensabkommen. Der Krieg wird wahrscheinlich auf dem Schlachtfeld entschieden werden und in einer eingefrorenen Konfliktsituation enden, in der Russland einen bitteren Sieg erringt — mit Russland auf der einen Seite und der Ukraine, Europa und den USA auf der anderen. Lassen Sie mich das erklären.
Eine diplomatische Beendigung des Krieges ist unmöglich, weil die Forderungen der Parteien völlig unvereinbar sind. Moskau beharrt darauf, dass die Ukraine ein neutraler Staat sein muss — also weder der NATO beitreten noch von Westen ernsthafte Sicherheitsgarantien erhalten darf. Russland fordert außerdem, dass die Ukraine und der Westen die Zugehörigkeit der 2014 annektierten Krim und der vier östlichen Oblaste zu Russland anerkennen. Drittens verlangt Moskau, dass die Größe der ukrainischen Armee auf ein Niveau reduziert wird, das keine militärische Bedrohung mehr darstellt. Europa — insbesondere die Ukraine — lehnt diese Forderungen entschieden ab. Die Ukraine weigert sich, Russland irgendein Territorium abzutreten; Europa und die ukrainischen Führungspersonen bestehen zudem darauf, die Ukraine entweder in die NATO aufzunehmen oder Kiew zumindest starke westliche Sicherheitsgarantien zu geben. Eine Entmilitarisierung der Ukraine in einem Maße, das Moskau zufriedenstellen würde, ist völlig undenkbar. Diese gegensätzlichen Positionen machen ein Friedensabkommen unmöglich.
Daher wird der Krieg nur auf dem Schlachtfeld entschieden werden können. Auch wenn ich glaube, dass Russland gewinnen wird, bedeutet das nicht, dass es einen vollständigen Sieg erringen und die gesamte Ukraine erobern wird. Stattdessen dürfte es einen hässlichen Sieg erringen; ein Szenario, in dem Russland zwischen 20 und 40 Prozent des ukrainischen Territoriums in den Grenzen vor 2014 besetzt hält, während die Ukraine als ein dysfunktionaler „Reststaat“ bestehen bleibt, der aus den von Russland nicht eroberten Gebieten besteht. Es ist unwahrscheinlich, dass Moskau versucht, die gesamte Ukraine zu erobern, denn die westlichen 60 Prozent des Landes bestehen überwiegend aus ethnischen Ukrainern, die eine Besatzung mit aller Härte bekämpfen würden — ein Albtraum für die russischen Besatzungstruppen. All dies zeigt: Das wahrscheinlichste Ergebnis des Ukrainekriegs wird ein fortdauernder eingefrorener Konflikt zwischen einem „vergrößerten Russland“ und einer von Europa unterstützten „Restukraine“ sein.
Folgen
Nun werde ich die wahrscheinlichen Folgen des Ukrainekriegs betrachten — zunächst für die Ukraine selbst, dann für die Beziehungen zwischen Europa und Russland. Abschließend werde ich die möglichen Auswirkungen des Krieges auf die inneren Dynamiken Europas und die transatlantischen Beziehungen diskutieren.
Zunächst ist die Ukraine faktisch zerstört. Das Land hat bereits einen erheblichen Teil seines Territoriums verloren und wird voraussichtlich noch mehr verlieren, bevor die Kämpfe enden. Seine Wirtschaft liegt in Trümmern und es gibt auf absehbare Zeit keine Hoffnung auf Erholung. Meinen Berechnungen zufolge hat das Land rund eine Million Verluste erlitten — eine erschütternde Zahl für jedes Land, aber insbesondere für eines, das sich angeblich in einer „demografischen Todesspirale“ befindet. Auch Russland hat beträchtliche Kosten getragen, doch stehen diese in keinem Verhältnis zu den Zerstörungen, die die Ukraine erlitten hat.
Europa wird höchstwahrscheinlich auch künftig ein Verbündeter der „Restukraine“ bleiben; denn sowohl „versunkene Kosten“ als auch die im Westen weitverbreitete tiefe Russophobie machen dies notwendig. Doch diese fortdauernde Beziehung wird kaum zugunsten Kiews wirken; zwei Gründe sprechen dagegen. Erstens ermutigt sie Moskau dazu, in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzugreifen und das Land wirtschaftlich wie politisch zu destabilisieren, damit die Ukraine keine Bedrohung für Russland darstellt und weder der NATO noch der EU beitreten kann. Zweitens treibt Europas bedingungsloser Wille, Kiew zu unterstützen, die Russen dazu, während der laufenden Kämpfe so viel ukrainisches Territorium wie möglich zu erobern — damit die „Restukraine“ im Falle eines eingefrorenen Konflikts so schwach wie möglich ist.
Wie werden sich nun die Beziehungen zwischen Europa und Russland entwickeln? In absehbarer Zukunft werden sie zweifellos extrem vergiftet sein. Sowohl die Europäer als auch natürlich die Ukrainer werden weiterhin versuchen, Russlands Bemühungen zu vereiteln, die annektierten ukrainischen Gebiete in ein „vergrößertes Russland“ zu integrieren — und sie werden Gelegenheiten suchen, Russland wirtschaftlich und politisch zu schaden. Russland hingegen wird darauf bedacht sein, Unruhe innerhalb Europas zu stiften und die Beziehungen zwischen Europa und den USA zu untergraben. Da sich der Westen nahezu vollständig gegen Russland positioniert hat, werden die russischen Führungspersonen einen starken Anreiz haben, den Westen nach Kräften zu spalten. Es darf nicht vergessen werden, dass Russland versuchen wird, die Ukraine dysfunktional zu halten, während Europa versuchen wird, sie funktionsfähig zu machen.
Die Beziehungen zwischen Europa und Russland werden jedoch nicht nur giftig, sondern auch gefährlich sein. Die Gefahr eines Krieges wird dauerhaft bestehen bleiben. Neben der Möglichkeit eines erneuten Aufflammens des Krieges zwischen der Ukraine und Russland — schließlich wird die Ukraine verlorenes Territorium zurückerobern wollen — gibt es sechs weitere Konfliktherde, in denen ein Krieg zwischen Russland und einem oder mehreren europäischen Staaten ausbrechen könnte.
Der erste Konfliktherd ist die Arktis, wo das Schmelzen des Eises neue Durchgänge und einen Wettbewerb um Ressourcen eröffnet. Von den acht arktischen Staaten sind sieben NATO-Mitglieder; der achte ist Russland. Das bedeutet, dass Russland in dieser strategisch wichtigen Region einem zahlenmäßigen Verhältnis von 7:1 gegenübersteht.
Der zweite Konfliktherd ist die Ostsee, die manchmal als „NATO-See“ bezeichnet wird, da sie größtenteils von Allianzmitgliedern umgeben ist. Doch dieser Wasserweg ist für Russland von strategischer Bedeutung — etwa wegen Kaliningrad, einer russischen Exklave, die vollständig von NATO-Ländern umgeben ist.
Der vierte Konfliktherd ist Belarus, das sowohl aufgrund seiner Größe als auch seiner Lage strategisch ebenso bedeutsam ist wie die Ukraine. Europa und die USA werden wahrscheinlich versuchen, nach dem Abgang von Präsident Aleksandr Lukaschenko in Minsk eine prowestliche Regierung zu installieren und das Land in eine Bastion des Westens an der Grenze zu Russland zu verwandeln.
Der Westen ist bereits tief in der moldauischen Politik verstrickt, einem Land, das an die Ukraine grenzt und in dessen abtrünniger Region Transnistrien russische Truppen stationiert sind.
Der letzte Konfliktherd ist das Schwarze Meer, eine Region von großer strategischer Bedeutung sowohl für Russland und die Ukraine als auch für NATO-Staaten wie Bulgarien, Griechenland, Rumänien und die Türkei. Wie in der Ostsee birgt auch hier das Potenzial für erhebliche Konflikte.
All dies zeigt, dass die feindseligen Beziehungen zwischen Europa und Russland auch nach der Verwandlung des Ukrainekriegs in einen „eingefrorenen Konflikt“ fortbestehen werden — in einer Umgebung mit geopolitisch instabilen Brennpunkten. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Kämpfe in der Ukraine enden, wird die Gefahr eines großen europäischen Krieges nicht verschwinden.
Nun möchte ich mich den Folgen des Ukrainekriegs innerhalb Europas und seinen möglichen Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen zuwenden. Ein russischer Sieg — selbst ein hässlicher — wäre für Europa eine überraschende und niederschmetternde Niederlage. Anders ausgedrückt: Er wäre auch eine verblüffende Niederlage für die NATO, die seit Februar 2014 tief in den ukrainischen Konflikt verwickelt ist. Seit der Eskalation zum offenen Krieg im Februar 2022 ist das Bündnis entschlossen, Russland zu besiegen.
Eine Niederlage der NATO wird sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch innerhalb der einzelnen Staaten zu Schuldzuweisungen führen. Die Frage, wer für dieses Desaster verantwortlich sei, wird für die politischen Eliten Europas von enormer Bedeutung sein — und der Impuls, die Verantwortung abzuwälzen, wird überwiegen. Eine Debatte darüber, „wer die Ukraine verloren hat“, wird die ohnehin zersplitterte europäische Politik weiter erschüttern. Neben diesen politischen Konflikten wird die Tatsache, dass die NATO nicht in der Lage war, Russland — einen Staat, den viele europäische Führungspersonen als existentielle Bedrohung betrachten — aufzuhalten, einige dazu bringen, die Zukunft der NATO infrage zu stellen. Wenn der Krieg endet, wird die NATO fast sicher schwächer sein als zuvor.
Die Schwächung der NATO wird auch für die Europäische Union negative Folgen haben, denn die EU ist auf ein stabiles Sicherheitsumfeld angewiesen, und der Schlüssel zur Stabilität in Europa ist die NATO. Abgesehen von diesen Bedrohungen für die EU hat die seit Kriegsbeginn stark geschrumpfte Gas- und Ölversorgung Europas die großen Volkswirtschaften schwer belastet und das Wachstum im Euroraum insgesamt verlangsamt. Es gibt starke Gründe anzunehmen, dass sich das Wirtschaftswachstum in Europa nach dem Ukraine-Desaster nur langsam erholen wird.
Eine Niederlage der NATO in der Ukraine wird auch die transatlantischen Beziehungen mit gegenseitigen Schuldzuweisungen belasten. Die Trump-Regierung hat Kiew wesentlich weniger unterstützt als die Biden-Regierung und stattdessen verlangt, dass Europa die Verantwortung für die Unterstützung der Ukraine übernimmt. Wenn der Krieg schließlich mit einem russischen Sieg endet, wird Trump den Europäern vorwerfen, nicht genug getan zu haben; die europäischen Führungspersonen wiederum werden behaupten, dass Trump die Ukraine im Moment des größten Bedarfs im Stich gelassen habe. Trump hat ohnehin ein angespanntes Verhältnis zu Europa; diese gegenseitigen Vorwürfe werden die Lage weiter verschlimmern.
An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die USA ihre militärische Präsenz in Europa deutlich reduzieren oder sogar sämtliche Kampftruppen vollständig aus Europa abziehen werden. Wie ich zu Beginn meines Vortrags betonte, schafft der historische Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung — unabhängig vom Ukrainekrieg — einen starken Anreiz für die USA, sich verstärkt Asien zuzuwenden, was zwangsläufig eine Abwendung von Europa bedeutet. Dieser Schritt allein könnte das Ende der NATO bedeuten und damit das Ende der amerikanischen „stabilisierenden“ Präsenz in Europa.
Die Ereignisse in der Ukraine seit 2022 haben diese Möglichkeit weiter verstärkt. Noch einmal: Trump hegt eine tiefe Abneigung gegenüber europäischen Führungspersonen und wird ihnen die Schuld für den Verlust der Ukraine geben. Er empfindet keine große Zuneigung zur NATO und bezeichnet die Europäische Union als einen Feind, der geschaffen wurde, um die USA „auszunutzen“. Außerdem wird die Tatsache, dass die Ukraine den Krieg trotz gewaltiger NATO-Unterstützung verloren hat, ihn dazu veranlassen, das Bündnis als „ineffektiv und nutzlos“ abzutun. Dieses Argument wird Trump zusätzliche Grundlage bieten, zu behaupten, Europa müsse seine eigene Sicherheit selbst gewährleisten und dürfe nicht länger auf die USA bauen. Kurz gesagt: Die Folgen des Ukrainekriegs und Chinas außerordentlicher Aufstieg scheinen das Gefüge der transatlantischen Beziehungen in den kommenden Jahren zu erodieren — ein großer Verlust für Europa.
Schlussfolgerung
Ich möchte meinen Vortrag mit einigen allgemeinen Beobachtungen abschließen. Zunächst einmal ist der Ukrainekrieg ein einziges Desaster. Und er wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in den kommenden Jahren ein Desaster bleiben. Der Krieg hat für die Ukraine verheerende Folgen gehabt. Er hat die Beziehungen zwischen Europa und Russland auf absehbare Zeit vergiftet und Europa zu einem gefährlicheren Ort gemacht. Gleichzeitig hat er erhebliche wirtschaftliche und politische Schäden innerhalb Europas verursacht und den transatlantischen Beziehungen schweren Schaden zugefügt. All dies wirft eine unvermeidliche Frage auf: Wer trägt die Verantwortung für diesen Krieg? Diese Frage wird so bald nicht verschwinden; im Gegenteil, je mehr Menschen im Laufe der Zeit das Ausmaß der Schäden erkennen, desto drängender wird sie werden.
Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Die Hauptverantwortung für den Krieg liegt bei den USA und ihren Verbündeten in Europa. Die Entscheidung vom April 2008, die Ukraine in die NATO aufzunehmen — ein Ziel, das der Westen seither unerbittlich verfolgt und immer wieder bekräftigt hat — ist der wichtigste Auslöser des Ukrainekriegs.
Dennoch werden die meisten europäischen Führungspolitiker die Verantwortung für den Krieg und seine katastrophalen Folgen Putin zuschreiben. Doch das ist eine Fehlinterpretation. Hätte der Westen die Entscheidung, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, nicht getroffen oder wäre er von diesem Vorhaben abgerückt, sobald der russische Widerstand eindeutig wurde, hätte der Krieg wahrscheinlich verhindert werden können. In einem solchen Szenario wäre die Ukraine heute mit hoher Wahrscheinlichkeit noch innerhalb ihrer Grenzen vor 2014 intakt, und Europa wäre ein stabilerer und wohlhabenderer Ort. Doch diese Chance ist vertan, und Europa muss sich nun den katastrophalen Konsequenzen einer Reihe vermeidbarer Fehlentscheidungen stellen.
*John J. Mearsheimer ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Chicago und Mitautor des Buches The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy.
Quelle: https://www.theamericanconservative.com/mearsheimer-europes-bleak-future/