Europa braucht einen neuen Metternich

Ein Anzeichen für den Niedergang ist, wenn man etwas erfindet, aber andere besser darin werden, es zu nutzen. Die Europäer haben die moderne Diplomatie erfunden – einschließlich jener Variante, über die man sagt: „Diplomatie ist, wenn man jemanden zur Hölle schickt und ihm die Reise schmackhaft macht.“ Heute beherrschen wir das nicht mehr – aber andere schon.

Die größten Diplomaten aller Zeiten waren ein Franzose und ein Österreicher. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord war ein Meister des politischen Opportunismus, nur rivalisiert von seinem habsburgischen Gegenpart Klemens von Metternich. Talleyrand und Metternich waren die obersten Diplomaten globaler Mächte. Nach Napoleons Niederlage war Frankreich ein stark geschwächtes Land ohne militärischen Einfluss. Talleyrands Meisterleistung bestand darin, für Frankreich eine Nische zu schaffen, indem er alle gegeneinander ausspielte – die Briten gegen die Preußen, die Österreicher gegen die Russen. Er hat das Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte nicht genau erfunden, aber er hat es mit unvergleichlicher Genialität genutzt.

Heute sind sich die iranische Regierung und die Trump-Administration in einer Sache einig: Die Europäer haben in der Diplomatie des Nahen Ostens keine nützliche Rolle mehr zu spielen. Eine deutsche Zeitung beklagte sich kürzlich, dass man die Europäer überhaupt nicht mehr informiere. Niedergang erkennt man an solchen Schlagzeilen.

Was würde also ein moderner Talleyrand über China und Donald Trump denken? Ich spekuliere natürlich, aber wir befinden uns in einer klassischen Talleyrand-Situation. Die Schwierigkeit für ihn bestünde heute darin, 27 EU-Mitgliedstaaten sowie das Vereinigte Königreich und Norwegen zu einer gemeinsamen Position zu vereinen – anstatt sie gegeneinander auszuspielen, wie wir es früher getan haben. Es ist um ein Vielfaches schwieriger, zu einen als zu spalten. Als die USA mit Zöllen gegen Europa drohten, hätte Talleyrand dem Europäischen Rat vermutlich geraten, eine Erklärung abzugeben, in der man das neue Zeitalter transaktionaler Wirtschaftsbeziehungen begrüßt – und dann konkrete Maßnahmen zu ergreifen, die Trump zur Weißglut gebracht hätten.

Rückblickend erkennen wir eine verpasste Chance zur Durchsetzungskraft. Die Biden-Administration untersagte einst den Verkauf von Hochleistungs-Halbleitern nach China und übte starken Druck auf die niederländische Regierung aus, den Export von Maschinen nach China zu stoppen, mit denen solche Chips hergestellt werden können. Bei dem betreffenden Unternehmen handelt es sich um ASML – ein globaler Monopolist für Hochleistungs-Lithografie-Maschinen, die winzige dreidimensionale Strukturen in Siliziumscheiben gravieren. ASML ist für Europa das, was seltene Erden für China sind. Präsident Xi Jinping nutzte das chinesische Monopol auf seltene Erden sehr effektiv, als er deren Export untersagte, nachdem Trump Zölle gegen China verhängt hatte. Die Europäer hätten das Gleiche mit ASML tun können – einen Exportstopp verhängen. Aber dafür hätten sie den verlorenen Geist eines Talleyrand oder eines Metternich gebraucht, um einen solch kühnen Schritt zu wagen.

Der Niedergang Europas wirkt dramatisch, wenn man ihn über einen längeren Zeitraum betrachtet. Doch in den letzten zehn Jahren hat er sich deutlich beschleunigt. Vor ziemlich genau zehn Jahren waren europäische Diplomaten federführend beim Iran-Atomabkommen. Der Iran erklärte sich bereit, die Zahl seiner Zentrifugen um etwa zwei Drittel zu reduzieren. Außerdem verpflichtete sich das Land, seine Vorräte an angereichertem Uran zu begrenzen. Das Abkommen sah die üblichen Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen vor.

Trump stieg 2018 aus dem Atomabkommen mit dem Iran aus – und das war das Ende der Vereinbarung. Heute spielen die Europäer in der Diplomatie des Nahen Ostens keine eigenständige Rolle mehr. Nachdem Trump Bomben auf den Iran abgeworfen hatte, forderten europäische Staats- und Regierungschefs den Iran auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren – scheinbar ohne zu begreifen, dass das von ihnen ausgehandelte Abkommen eben jener Verhandlungstisch war, den Trump umgestoßen hatte.

Ein moderner Talleyrand oder Metternich hätte seinen Herrschern auch nicht geraten, alle Kommunikationskanäle mit Wladimir Putin abzubrechen. Auch sie hätten auf der Seite der Ukraine gestanden – aber sie hätten den europäischen Führern nicht empfohlen, ihre strategischen Ziele als offene Verpflichtung ohne Endpunkt zu formulieren. Sie hätten strategische Ambiguität vertreten – und vor allem: keine roten Linien. Rote Linien zieht man, wenn man keine Strategie hat. Die Strategie eines Talleyrand oder Metternich wäre es gewesen, eine Position zu schaffen, in der der Krieg enden kann, ohne dass eine Seite besiegt wird. Ihre diplomatische Herangehensweise wäre der von Trump näher gewesen als der heutiger europäischer Führer. Wenn Trump ein besserer Diplomat ist als man selbst, hat man ein ernstes Problem.

Wie Trump, Xi und Putin hätten sie die Bedeutung von natürlichen Ressourcen im 21. Jahrhundert verstanden. Europa hingegen verfügt über nur wenige eigene Ressourcen – und selbst diese hat man verboten, wie Kohle oder Kernenergie, oder nie erschlossen, wie Erdgas aus Fracking oder Tiefsee-Bohrungen. Trump, Putin und Xi sind strategische Akteure insofern, als sie über eine wirtschaftliche Vision verfügen, die über ihre eigene Lebenszeit hinausreicht. Man kann ihre Wirtschaftspolitik so sehr kritisieren, wie man möchte – und das tue ich auch – aber sie unterscheiden sich von sämtlichen europäischen Staats- und Regierungschefs dadurch, dass sie überhaupt eine wirtschaftliche Strategie haben.

Trotz ihrer beeindruckenden Bilanz agierten die großen europäischen Diplomaten des 19. Jahrhunderts aus einer Position der Schwäche heraus. Sie hätten kein Problem mit Mark Ruttes Schmeicheleien gegenüber Donald Trump gehabt – ihre Schmeicheleien wären nur gewitzter gewesen. Schmeichelei gehörte zum diplomatischen Repertoire. Talleyrand schmeichelte den Briten; Metternich schmeichelte den Russen. Der Zweck dieser Schmeicheleien war es, ein stabiles politisches Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent zu erreichen. Und dieses Gleichgewicht hielt – mit einigen bemerkenswerten Unterbrechungen – rund 100 Jahre. Ruttes Schmeichelei hingegen diente lediglich dazu, Trump noch ein wenig länger für die europäische Sicherheitsarchitektur bei der Stange zu halten – ohne das eigentliche Problem der europäischen Abhängigkeit zu lösen. Und genau darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen damals und heute: Der politische Planungshorizont reicht heute selten über die Schlagzeilen des nächsten Tages hinaus.

Talleyrand und Metternich waren altmodisch – sowohl in ihrer Diplomatie als auch in ihren Überzeugungen. Metternich war ein Reaktionär. Er verabscheute die Demokratie. Talleyrand begann als Unterstützer der Französischen Revolution, wurde aber zunehmend skeptisch. Wenn ich eine provokante Vermutung anstellen müsste, dann wäre es die, dass beide heute EU-skeptisch wären – zumindest in Bezug auf die großen Staatsangelegenheiten. Gleichzeitig würden sie wohl pragmatisch solche Institutionen unterstützen, die den Interessen der EU dienlich sind, etwa die Welthandelsorganisation oder den Internationalen Strafgerichtshof. Wahrscheinlich würden sie auch Freihandelsbündnisse unter gleichgesinnten Multilateralisten befürworten.

Soft Power war nicht ihr Instrument, aber sie hätten deren Rolle in der modernen Diplomatie wohl verstanden. Durch die Kürzung des Entwicklungshilfebudgets hat die USA strategische Chancen liegen lassen, die clevere Europäer zu ihrem Vorteil hätten nutzen können. Doch genau das ist nicht passiert. Das Vereinigte Königreich folgte dem US-Beispiel und kürzte ebenfalls seine Entwicklungshilfe – um die von den USA geforderten Verteidigungsausgaben erfüllen zu können. Ich habe nie geglaubt, dass Soft Power harte Macht ersetzen kann, und ich habe auch nie die naive Romantik geglaubt, die die Rhetorik der europäischen Integration durchzieht. Aber ich erkenne einen Mangel an strategischem Denken, wenn europäische Regierungen ihre internationalen Radiosender einstellen, ihre Fremdsprachenprogramme abbauen oder Stipendien streichen. Oder wenn sie den Zugang ausländischer Studierender zu westlichen Universitäten einschränken.

Was heutige Europäer mit ihren Vorfahren gemeinsam haben, ist ein Gefühl moralischer und intellektueller Überlegenheit. Nur lässt sich dieses heute weit schwerer begründen. Die Europäer empören sich gerne über Trump. Manche Ökonomen – die es eigentlich besser wissen müssten – forderten die EU sogar auf, Vergeltungszölle gegen Trump zu verhängen: ein wirklich schlechter Ratschlag, den die Europäische Kommission zum Glück ignoriert. Die Realität holte uns vergangene Woche ein, als ein nervöser Friedrich Merz der EU-Kommission nahelegte, so schnell wie möglich jeden beliebigen Handelsdeal mit Trump zu unterzeichnen. Er formulierte es natürlich nicht ganz so. Er sagte, die EU solle nicht auf ein perfektes Abkommen pochen, wenn auch ein weniger perfektes ausreiche. Aber was er eigentlich meinte, war: Wir haben keine andere Wahl. Die deutsche Industrie blutet. Die Zölle drohen, die nunmehr zweijährige Rezession Deutschlands zu verlängern. Wenn man keine Strategie hat, verliert man gegen jene, die eine haben.

Wären die Europäer klug gewesen, hätten sie Trumps Angriff auf das US-Universitätssystem zu ihrem Vorteil nutzen können. Er befindet sich nicht nur im Krieg mit den geisteswissenschaftlichen Elitehochschulen der Ostküste. Seine Regierung streicht auch viele Hightech-Forschungsprogramme. Der Grund, warum Fachkräfte aus dem Tech-Bereich lieber in den USA arbeiten, ist das höhere Gehalt und ein liberaleres Innovationsumfeld. Warum können die Europäer nicht ebenfalls attraktive Gehälter anbieten – und unzufriedene US-Wissenschaftler herzlich willkommen heißen?

Ich werde an dieser Stelle mit meinen Vorschlägen aufhören, was Europa in den letzten Monaten hätte tun können oder sollen. Fangen wir gar nicht erst an mit den größeren Themen wie einer Fiskalunion, einer Kapitalmarktunion oder auch nur einem Programm zur Beseitigung der Hindernisse im europäischen Binnenmarkt. Die Realität ist: Wenn Trump handelt, reagiert Europa. Auch das ist ein Indikator für Niedergang. Niedergang bedeutet, sich mit der zweitbesten Lösung zufriedenzugeben. Man will nicht mehr führend in der Technologie sein – man ist überglücklich, wenn Google ein Rechenzentrum im eigenen Land baut oder Tesla eine Gigafactory errichtet.

Die Europäer haben das Automobil erfunden. Aber die Welt der Elektroautos wird ein amerikanisches und chinesisches Spielfeld sein. Die Autoindustrie ist vielleicht das spektakulärste Beispiel für Europas industriellen Niedergang – aber das passiert auch in anderen Sektoren: Batterien, Solarzellen, Hochgeschwindigkeitszüge, Telekommunikationsausrüstung. Europas Industrien fallen wie Dominosteine – und werden weiter fallen, wenn sie nicht geschützt werden. Doch Subventionen und Zölle, durch die dieser Schutz erfolgen würde, sind ebenfalls ein Zeichen des Niedergangs.

Was ich hier beschreibe, ist ein langfristiger, struktureller Niedergang. Der könnte theoretisch umgekehrt werden – aber dafür bräuchte es einen politischen Willen, der in keinem einzigen mir bekannten europäischen Land existiert. Ich kenne keine einzige Partei, keinen einzigen Politiker in Europa, der sich klar und fokussiert mit diesen Fragen auseinandersetzt. Glaubt wirklich irgendjemand, dass weniger Migration das Problem lösen würde? Oder höhere Staatsausgaben? Oder eine schuldenfinanzierte Aufrüstung? Oder was auch immer gerade in Europa diskutiert wird?

Verdrängung und Wunschdenken sind ein weiterer wichtiger Indikator für den Niedergang. Alle meine Warnlampen blinken rot.

Quelle: https://unherd.com/2025/06/europe-needs-a-metternich/?us=1