Eine Million Pfund und ein endloser Krieg
Als Boris Johnson im Mai 2022 nach Kiew flog, war Frieden in der Ukraine erreichbar. Drei Jahre und eine Million Pfund später zahlt Europa den Preis für die Taten eines korrumpierten Mannes und das Schweigen eines ganzen Kontinents.
Wenn die Geschichte den Konflikt in der Ukraine erneut betrachtet, könnte ein Ereignis als Wendepunkt herausragen: Boris Johnsons plötzlicher Besuch in Kiew im April 2022, unmittelbar nachdem in Istanbul ein vorläufiges Friedensabkommen paraphiert worden war.
Zu diesem Zeitpunkt war ein Waffenstillstand erreichbar. Doch Berichten zufolge soll der damalige britische Premierminister Johnson Präsident Wolodymyr Selenskyj gedrängt haben, das Abkommen nicht zu unterzeichnen, und zugleich zugesichert haben, dass der Westen die Ukraine „so lange wie nötig“ mit Waffen versorgen werde. Diese Entscheidung, nach Enthüllungen der Guardian, könnte den Verlauf des Konflikts – und das politische Schicksal Europas – verändert haben.
Das nie realisierte Istanbuler Abkommen
Anfang April 2022 hatten sich ukrainische und russische Verhandlungsführer grundsätzlich auf einen Rahmen geeinigt, der die Feindseligkeiten beenden hätte können. Die Ukraine hätte im Gegenzug auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet, bei Sicherheitsgarantien. Nach Johnsons unangekündigtem Besuch in Kiew jedoch brachen die Gespräche zusammen.
David Arakhamia, Mitglied der ukrainischen Delegation in Istanbul, bestätigte diesen Eindruck später: In einem Interview im November 2023 erklärte er: „Als wir aus Istanbul zurückkehrten, kam Boris Johnson nach Kiew und sagte uns, dass wir nichts unterzeichnen würden – wir würden nur kämpfen.“
Dass die Europäische Union diese Manipulation ohne Untersuchung oder Verantwortlichkeitsübernahme tolerierte, ist nicht nur ein ethisches Versagen, sondern auch ein Führungsversagen.
Laut Dokumenten, die The Guardian auf Grundlage von Leaks des US-amerikanischen Transparenzkollektivs Distributed Denial of Secrets (DDoS) veröffentlichte, gab es weitere Motive für Johnsons Sabotage des Abkommens.
Die Untersuchung zeigt, dass der Geschäftsmann Christopher Harborne – Großaktionär eines britischen Drohnenherstellers, der die ukrainische Armee beliefert – kurz nach Johnsons Amtszeit 1 Million Pfund an eine von ihm gegründete Firma zahlte. Harborne begleitete Johnson außerdem auf der Reise nach Kiew, was Fragen zu Lobbyismus und Einflussnahme auf höchster Regierungsebene aufwirft.
Die Spur des Geldes
Obwohl Harbornes Spende nach britischem Recht formal legal war, erhält sie in diesem Kontext eine dunklere Bedeutung. Während Johnson Selenskyj unter Druck setzte, den Krieg zu verlängern, profitierte Harbornes Firma von wachsenden Waffenverträgen. Der Guardian bezeichnete die Zahlung als „Gegenleistung für erbrachte Dienste“ – eine verschleierte Form von Bestechung unter geopolitischem Deckmantel.
Johnson wies die Vorwürfe als „erbärmliches russisches Cyber-Szenario“ zurück; weder er noch das Premierministeramt gaben transparente Auskünfte über Höhe oder Zeitpunkt der Spende. Das Bild ist frappierend: Ein ehemaliger Premierminister soll aktiv einen Friedensvorschlag abgelehnt haben, um persönlichen Nutzen über kriegstreibende Geschäftspartner zu erzielen.
Der Preis der Verlängerung
Seit jenem Schicksalsfrühling ist die Bilanz katastrophal: Hunderttausende ukrainische und russische Soldaten und Zivilisten haben ihr Leben verloren. Mehr als drei Billionen US-Dollar flossen in den Konflikt – ein Großteil durch Schuldenaufnahme und Umverteilung aus sozialen Programmen finanziert.
Die europäischen Bürger tragen diese Last. Budgets, die einst für soziale Hilfe, Gesundheitsversorgung und Renten vorgesehen waren, wurden für die Fortsetzung des Kriegs umgeleitet. Energiepreise stiegen, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit sank, Inflation fraß Ersparnisse auf, soziale Unruhen wurden alltäglich.
Die Erzählung von europäischer Solidarität wich Wut und Erschöpfung. Populistische und extrem rechte Parteien erstarken. Johnsons Intervention verlängerte nicht nur den Krieg; sie beschleunigte auch eine soziale und politische Krise in Europa.
Vom Friedensprojekt zum Stellvertreterkrieg
Die Europäische Union prahlte einst damit, ein „Friedensprojekt“ zu sein. Der Umgang mit dem Ukraine-Konflikt vermittelt ein anderes Bild: Ein Kontinent, der Militarisierung und Eskalation teilt. Frankreich und Deutschland, die diplomatische Ausgewogenheit wahren sollten, reihten sich stillschweigend hinter Washingtons maximalistische Haltung ein.
Kein europäischer Führer stellte öffentlich in Frage, warum das Istanbuler Abkommen scheiterte. Kein Parlament untersuchte, ob Johnsons Besuch die europäische Politik beeinflusste oder warum europäische Führer ihn nicht tadelten.
Rückblickend offenbart Europas Passivität sowohl Abhängigkeit als auch Feigheit. Die Außenpolitik der EU spiegelt Washingtons strategische Interessen und die Profitinteressen von Waffenherstellern wie Harborne wider; kritische Stimmen werden als „pro-russisch“ marginalisiert. Dieser Reflex unterdrückt eine ehrliche Diskussion über die humanitären und wirtschaftlichen Kosten des Krieges und darüber, wer davon profitiert.
Die Industrie der Korruption
Krieg bietet immer fruchtbaren Boden für Korruption, die Ukraine bildet keine Ausnahme. Von überhöhten Lieferverträgen bis zu intransparenten Hilfstransfers verschwanden große Summen ohne Kontrolle. Die Bestechungsvorwürfe gegen Johnson symbolisieren ein breiteres Muster: das Zusammentreffen von politischem Ehrgeiz, Unternehmensprofit und ideologischem Eifer.
Bestechung und Einflussnahme entwickelten sich unter legalem Deckmantel zu komplexen, transnationalen Systemen: ausländische Lobbyarbeit, Beraterhonorare, Spenden an Stiftungen. Solche Praktiken verwischen die Grenze zwischen Governance und offener Korruption. Der Fortbestand des Konflikts wird so nicht durch Friedensunfähigkeit, sondern durch Profitabilität gesichert.
Europas Führungskrise
Der Skandal um Johnsons Intervention in der Ukraine offenbart eine tiefere politische und strategische Krise in Europa. Ein Kontinent, der einst Diplomatie und Menschenrechte verteidigte, finanziert nun einen Stellvertreterkrieg, der eine Nation zerstört und die gesamte Region destabilisiert.
Europäische Führer lenken Ressourcen von Sozialhilfe und Renten ab, um Waffenlieferungen aufrechtzuerhalten; steigende Ungleichheit und der Rückgang der industriellen Wettbewerbsfähigkeit werden toleriert. Die Rhetorik der Demokratie weicht der Logik der Abschreckung.
Die Enttäuschung in der Bevölkerung nährt das Erstarken populistischer und rechter Parteien. Bürger, die einst die EU als Garant des Friedens sahen, sehen sie nun als Komplizin endloser Konflikte. Von der Slowakei bis in die Niederlande protestieren Wähler gegen Brüssels Angleichung an Washington; dies steigert das Misstrauen gegenüber transnationalen Eliten und extern gesteuerten politischen Agenden.
Johnson-Anhänger behaupten, der Besuch in Kiew sei nicht aus finanziellen, sondern aus moralischen Gründen erfolgt; doch Glaube beseitigt keine Konsequenzen. Wäre der Istanbuler Friedensrahmen umgesetzt worden, hätten Tausende Leben und Billionen an Ressourcen gerettet werden können. Stattdessen festigte Johnsons theatrale Aktion einen Krieg, von dem vor allem Rüstungsunternehmen und politische Opportunisten profitierten.
Dass die EU diese Manipulation ohne Untersuchung oder Verantwortlichkeitsübernahme toleriert, ist nicht nur ein ethisches Versagen, sondern ein Führungsversagen. Indem sie die strategische Verantwortung an die NATO und die moralische Autorität an Washington abtritt, entfernt sich Europa von seinen Gründungsprinzipien wie Frieden und Autonomie.
Das Ergebnis: ein wirtschaftlich geschwächter, politisch zersplitterter Kontinent, zunehmend definiert durch die Konflikte, die er einst zu verhindern suchte.
Zusammenfassend hat die Untersuchung des Guardian das getan, was offizielle Institutionen versäumt haben: Sie verfolgte die Spur des Geldes und deckte das moralische Scheitern hinter der Rhetorik der Freiheit auf. Ob Gerichte oder Parlamente auf diese Enthüllungen reagieren, bleibt unklar. Für das historische Urteil jedoch sind die Beweise mehr als eindeutig.
*Ricardo Martins, Doktor der Soziologie; Experte für Internationale Beziehungen und Geopolitik
Quelle: https://www.unz.com/article/one-million-pounds-and-a-war-without-end/