Die Zukunft der muslimischen Gemeinschaften im Schatten von Traumata
In der neuen Ära könnten Gesellschaften, die sich von der Umma-Idee entfernen und sich stärker nationalen Prioritäten zuwenden, von starken Führungsfiguren und säkularen Tendenzen geprägt werden. Wie sich diese Tendenzen auf die Stabilität der Region und die Zukunft der islamischen Welt auswirken werden, wird die wichtigste Frage der kommenden Jahre sein.
Die Bildung von Identitäten und die Gestaltung der Zukunft von Gesellschaften und großen Gruppen wird in der Geschichte durch die Katastrophen und historischen Feindschaften, die von anderen Gruppen verursacht wurden, maßgeblich beeinflusst. Solche Ereignisse werden im kollektiven Gedächtnis als „gewähltes Trauma“ festgehalten und über Generationen hinweg weitergegeben und reproduziert. Vamik Volkan beschreibt gewähltes Trauma als „die Vorstellung, dass große Verluste, Scham, Erniedrigung und Gefühle der Hilflosigkeit, die in den Konfliktprozessen erlebt wurden, in denen eine große Gruppe von einer anderen Gruppe betroffen war, von den nachfolgenden Generationen geteilt und wieder erzeugt werden.“ Sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene werden gewählte Traumata zu einem untrennbaren Bestandteil der Identität der betroffenen großen Gruppe und zu einem wichtigen Faktor, der ihre Zukunft gestaltet.
In der Entstehung der Identität und der Gestaltung der Zukunft in muslimischen Gesellschaften spielte die Aufzeichnung zweier großer Katastrophen im letzten Jahrhundert als „gewähltes Trauma“ im kollektiven Gedächtnis eine wichtige Rolle. Diese Traumata wurden über Generationen hinweg weitergegeben und erneut produziert. Das erste Trauma entstand nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und wurde durch die Besetzung des Territoriums muslimischer Gesellschaften durch westliche Mächte und kolonialistische Eingriffe in den islamischen Lebensstil vertieft. Das zweite Trauma trat mit der Gründung Israels 1948 auf und vertiefte sich durch die demütigende Niederlage der arabischen Staaten im Jahr 1967 gegenüber Israel, die Besetzung Jerusalems und die Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern aus ihren Heimatländern.
Dieser Artikel wird sich mit den großen Verlusten, Scham, Erniedrigung und Gefühlen der Hilflosigkeit befassen, die nach dem Beginn des Arabischen Frühlings im Jahr 2010 und der darauf folgenden Instabilität in der gesamten Region sowie nach den zerstörerischen Angriffen Israels auf Gaza, das Westjordanland, Libanon, Syrien, Jemen und Irak nach dem 7. Oktober 2023 in muslimischen Gesellschaften entstanden sind. Diese Ereignisse werden als „gewähltes Trauma“ bewertet und ihre möglichen Auswirkungen auf die Identitäten und Zukunftsvisionen muslimischer Gesellschaften analysiert.
Die erste große Traumatisierung der islamischen Welt: Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches
Das erste große Trauma, das die islamische Welt im letzten Jahrhundert tief beeinflusste, trat nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches auf. Die Besetzung der Gebiete, die von Muslimen bewohnt wurden, durch westliche Mächte und ihre Zerteilung in künstliche Grenzen unter einem Mandatsystem vertieften dieses Trauma noch weiter.
Die Interventionen der kolonialen Mächte in den islamischen Lebensstil bedeuteten für die muslimischen Gesellschaften nicht nur eine Bedrohung für religiöse Werte und Lebenspraktiken, sondern auch eine Verletzung ihrer kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit. Diese Situation löste einen großen Schock aus und führte dazu, dass das Trauma als „gewähltes Trauma“ im kollektiven Gedächtnis verankert wurde. Besonders die Reformen, die die westlichen Kolonialmächte unter dem Vorwand der Modernisierung auferlegten, schwächten traditionelle islamische Strukturen und führten zu einer Hinterfragung der Identität dieser Gesellschaften. Das daraus resultierende Gefühl der Enttäuschung löste die Suche der muslimischen Gesellschaften aus, ihre Unabhängigkeit und ihre eigene Identität neu zu definieren.
Diese Suche führte zur Entstehung verschiedener ideologischer und politischer Bewegungen in verschiedenen Regionen. Während in Indien islamisch inspirierte Befreiungsbewegungen wie die Jamaat-e-Islami entstanden, gewannen im Nahen Osten eher säkulare und antiimperialistische Tendenzen an Einfluss. In diesem Zusammenhang stärkten die Reaktionen auf die koloniale Praxis des Westens einerseits die Rufe nach einer Rückkehr zu islamischen Werten und bereiteten andererseits den Boden für die Annahme von Ideologien wie säkularem Nationalismus und Sozialismus.
Im Nahen Osten war die Annahme des sozialistischen arabischen Nationalismus sowohl auf staatlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene die bedeutendste Auswirkung dieses Prozesses. Der sozialistische arabische Nationalismus erhob sich als eine „Befreiungs-Ideologie“ gegen den westlichen Imperialismus und fand breite gesellschaftliche Unterstützung in der arabischen Welt. Diese Ideologie stellte in der Befreiungskampfbewegung sozialistische und säkulare Konzepte in den Vordergrund, anstatt islamische Motive zu betonen. Ein Beispiel hierfür ist der Aufstieg des Nasserismus in Ägypten unter der Führung von Gamal Abdel Nasser, der eine Vision entwickelte, die die wirtschaftliche Entwicklung, soziale Gerechtigkeit und nationale Unabhängigkeit der arabischen Völker mit sozialistischen Prinzipien verband. Diese Ideologie leitete die Suche nach Befreiung von der Kolonialherrschaft in der arabischen Welt und inspirierte viele politische Bewegungen in arabischen Ländern. Ab den 1950er Jahren wurden in vielen arabischen Ländern sozialistische Regime etabliert, die den sozialistischen arabischen Nationalismus übernahmen.
Das Trauma von 1967 und der Aufstieg des anti-imperialistischen islamischen Diskurses
Das zweite große Trauma der islamischen Welt nach dem Ersten Weltkrieg trat mit der Gründung Israels im Jahr 1948 auf und vertiefte sich nach der demütigenden Niederlage der arabischen Staaten gegen Israel im Jahr 1967. In dieser Zeit führte die israelische Besetzung von Jerusalem, einem heiligen Ort der Muslime, zu tiefer Enttäuschung, Wut und Hilflosigkeit in der gesamten islamischen Welt. Die Gründung Israels und die Ausweitung der israelischen Besetzung palästinensischen Gebiets wurden zu einer globalen Angelegenheit, die nicht nur palästinensische Muslime, sondern die gesamte islamische Welt betraf und anti-imperialistische sowie anti-zionistische Strömungen verstärkte.
Der Sechstagekrieg von 1967, in dem Israel Ost-Jerusalem, das Westjordanland, Gaza, die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen besetzte, führte zu großen Verlusten und tiefem Gefühl der Scham, Erniedrigung und Ohnmacht in den muslimischen Gesellschaften. Diese Ereignisse wurden im kollektiven Gedächtnis als „gewähltes Trauma“ verankert. Die schwere Niederlage der „mächtigen“ arabischen Armeen gegenüber Israel führte zu einem erheblichen Verlust an Anziehungskraft der sozialistischen arabischen Nationalismus-Ideologie, die zuvor als Erlösungsdoktrin geglaubt wurde. Die Führung von Gamal Abdel Nasser in Ägypten verlor nach dem Krieg an Prestigewert, und der Einfluss des Nasserismus als „Befreiungs-Ideologie“ schwächte sich erheblich.
In dieser Zeit führte Israels Politik der Besatzung und demografischen Umstrukturierung zur Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern, was eine humanitäre Krise in den palästinensischen Flüchtlingslagern auslöste. Diese Krise deutete auf das kollektive Versagen arabischer Staaten hin und führte zu einer schwindenden Vertrauensbasis gegenüber den Regierungen in der muslimischen Welt. Besonders die Unfähigkeit arabischer Staaten, einen effektiven Widerstand gegen Israel zu leisten, verstärkte die Wahrnehmung, dass die Staaten im Kampf gegen den Kolonialismus und Imperialismus versagt hätten, was wiederum zu einem Aufstieg nicht-staatlicher Akteure und gesellschaftlicher Bewegungen führte.
In diesem Kontext trat der Islamismus als „neue Erlösungs-Ideologie“ hervor. Der Islamismus konzentrierte sich nicht nur auf die Palästinafrage, sondern setzte die gesamte islamische Welt in den Fokus des Kampfes gegen Kolonialismus und Imperialismus. Drei bedeutende Ereignisse spielten eine Schlüsselrolle im Aufstieg des Islamismus:
1.Die Islamische Revolution im Iran (1979): Der Sturz des Schah-Regimes und die Etablierung einer islamistischen Regierung unter Ayatollah Khomeini lösten in der islamischen Welt große Resonanz aus. Diese Revolution zeigte, dass der Islamismus eine moderne revolutionäre Bewegung sein konnte und wurde zu einem starken Modell für muslimische Gesellschaften.
2.Der Afghanistan-Jihad (1980er Jahre): Der Widerstand gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan machte das Konzept des Jihads zu einer globalen Motivationsquelle für Muslime. Der Widerstand in Afghanistan schuf ein internationales Solidaritätsnetzwerk von muslimischen Kämpfern und bot einen Raum für weltweiten Widerstand.
3.Der Aufstieg von Hamas in Palästina: Gegründet 1987, stellte Hamas den Widerstand gegen Israel in einen islamischen Rahmen und unterschied sich damit von säkularen und nationalistischen palästinensischen Widerstandsbewegungen. Die Entstehung von Hamas legte den Grundstein für den Islamismus als eine alternative Lösung zur Palästinafrage.
In dieser Entwicklung gewann der Islamismus zunehmend an Einfluss und Unterstützung in breiten Teilen der muslimischen Welt. Statt traditioneller nationalstaatlicher Ideologien stellte der Islamismus die universellen Werte des Islams in den Vordergrund und betonte die politische, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit. Diese Entwicklung kann als ein bedeutender Wendepunkt in der ideologischen Neugestaltung der islamischen Welt im 20. Jahrhundert betrachtet werden.
“Gewählte Traumata” in der islamischen Welt und ihre Auswirkungen auf die Zukunft
Die islamische Welt sah sich im Laufe der Geschichte mit verschiedenen „gewählten Traumata“ konfrontiert, die ihre sozio-politische Struktur tiefgreifend beeinflussten und im kollektiven Gedächtnis verankert wurden. Neben den frühere Ereignissen wie dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und der Gründung Israels, die tiefe Traumata hinterließen, erlebte die Region zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein weiteres Trauma.
Das jüngste „gewählte Trauma“ der islamischen Welt trat mit dem Arabischen Frühling 2010 und der späteren politischen Misserfolgen dieser Bewegung auf, das in der Folge durch die groß angelegten zerstörerischen Angriffe Israels 2023 weiter vertieft wurde. Der Arabische Frühling begann als eine Bewegung, die politische Veränderung forderte, Diktaturen stürzte und von islamistischen Bewegungen angeführt wurde. Doch mit dem Militärputsch gegen Mohammed Mursi in Ägypten 2013, dem Bürgerkrieg in Libyen sowie dem Bürgerkrieg in Syrien und Jemen setzte sich der politische Wandel nicht fort, was als Scheitern islamistischer Bewegungen angesehen wurde.
Am 7. Oktober 2023 begannen die Angriffe von Israel, die zunächst in Palästina ihren Ursprung nahmen und sich auf den Libanon, Jemen, Syrien und den Irak ausdehnten, und vertieften die menschliche Tragödie im Gazastreifen. Diese Angriffe, die bis hin zu Genozidvorwürfen reichten, führten zum Tod von Zehntausenden unschuldigen Zivilisten, der Vertreibung von Hunderttausenden und einer gravierenden humanitären Krise. Die weite Verbreitung dieses Ereignisses in den sozialen Medien löste in muslimischen Gesellschaften tiefe Scham und Wut aus. Die Ohnmacht der regionalen Staaten und islamistischen Bewegungen, den israelischen „Genozid“ zu stoppen, führte zu einer erheblichen Vertrauenskrise in der Palästinafrage.
Zusätzlich zu dieser aktuellen Krise war der Fall Syriens von großer Bedeutung. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels war das Regime von Bashar al-Assad nach einem langen Bürgerkrieg von dreizehn Jahren gestürzt worden. Obwohl der Sturz des Baath-Regimes als äußerst positive Entwicklung angesehen wurde, führten die Instabilität in Syrien und die tiefgreifenden Veränderungen in der regionalen Sicherheitsarchitektur der letzten zehn Jahre zu erheblichen Unsicherheiten über die Zukunft der „Syrischen Revolution“.
Mögliche Auswirkungen der „gewählten Traumata“ auf die Zukunft der islamischen Welt
Die Entwicklungen nach dem 7. Oktober könnten in den muslimischen Gesellschaften drei grundlegende Tendenzen beeinflussen:
1.Der Übergang von der Ummah zu nationalistischen und mikro-nationalistischen Tendenzen
Die politische Instabilität, die nach dem Arabischen Frühling in der gesamten Region auftrat, und die Hilflosigkeit nach den israelischen Angriffen könnten dazu führen, dass die umma-orientierten Ansätze ihre Wirksamkeit verlieren, während nationalistische oder mikro-nationalistische Ansätze an Bedeutung gewinnen. Die zunehmende Gleichgültigkeit der politischen Eliten der islamischen Welt gegenüber der Palästinafrage, die von den muslimischen Gesellschaften geteilt wird, ist ein erstes Anzeichen dafür, dass sich die regionalen Bevölkerungen zunehmend auf lokale Anliegen konzentrieren, anstatt auf Themen von globalem Interesse für die gesamte islamische Welt. Wenn sich diese Haltung unter den politischen Eliten weiter verbreitet, könnte dies den Trend beschleunigen, dass muslimische Gesellschaften von universeller islamischer Solidarität abrücken und zunehmend nach nationalen Interessen handeln.
2.Das Aufkommen starker und charismatischer Führerfiguren
Die politische Instabilität, die im Zuge des Arabischen Frühlings in der Region auftrat, hat zu schweren humanitären und wirtschaftlichen Kosten geführt und den Bedarf an starken Führern in den muslimischen Gesellschaften, wie auch in anderen Teilen der Welt, erhöht. Führer wie Recep Tayyip Erdoğan und Mohammed bin Salman (MbS) gewinnen durch ihre nationalen Entwicklungsprogramme und stabilitätsfördernden Politiken an Popularität. Beide Führer konnten ihre Länder inmitten der Instabilitäten des Arabischen Frühlings schützen und sogar stärken, was das Vertrauen in ihre Führungspositionen mehr als in ihre persönlichen Eigenschaften verstärkte. Zukünftig könnte es dazu kommen, dass starke Staatsoberhäupter als Garant für politische Stabilität und Sicherheit angesehen werden und in nationalen Projekten eine zentrale Rolle spielen.
3.Die Stärkung säkularer Tendenzen
In der gesamten Region findet der Säkularismus, insbesondere durch Führer, die sich auf wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierungsprojekte konzentrieren, zunehmende Unterstützung. Die „Moderate Islam“-Politik unter der Führung von MbS in Saudi-Arabien sowie die ähnliche Priorisierung von wirtschaftlicher Entwicklung und nationaler Sicherheit in der Türkei könnten diese Tendenz weiter verstärken. Das Vertrauen in islamistische Bewegungen, die in der politischen Transformation nicht den erhofften Erfolg erzielt haben, könnte dazu beitragen, dass säkulare Ideologien wieder populär werden.
Fazit: Eine neue Ära in der islamischen Welt
Die Traumata, die die islamische Welt im letzten Jahrhundert erlebt hat, führten in jeder Epoche zur Entstehung unterschiedlicher Erlösungsideologien. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches gewannen anti-imperialistische und nationalistische Ideologien an Bedeutung, während die Gründung Israels und die Arabisch-Israelischen Kriege dazu führten, dass säkulare und nationalistische Ideologien an Attraktivität verloren und islamistische Ansätze in den Vordergrund traten. Der mit dem Arabischen Frühling 2010 begonnene und durch die verheerenden israelischen Angriffe im Jahr 2023 auf den gesamten Nahen Osten vertiefte Prozess wird jedoch zu einer ernsthaften Hinterfragung des Islamismus führen.
In dieser neuen Ära werden Gesellschaften, die sich von der Ummah-Ideologie entfernen und nationale Prioritäten setzen, möglicherweise von starken Führerfiguren und säkularen Tendenzen beeinflusst werden. Die Frage, wie diese Tendenzen die regionale Stabilität und die Zukunft der islamischen Welt beeinflussen werden, ist eine der wichtigsten Fragen der kommenden Jahre.
Doç. Dr. (Außerordentlicher Professor), Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Mardin Artuklu Universität, [email protected]
Übersetzt von: Meryem M.