Die Suche Europas nach einer Identität oder die europäische Geschichte im Gegensatz zur Weltgeschichte
Erstveröffentlichung: Zeitschrift YARIN, Mai 2004
Im Mai letzten Jahres wurde ein Schreiben veröffentlicht, das vom deutschen Philosophen Jürgen Habermas verfasst und vom französischen Philosophen Jacques Derrida unterzeichnet wurde. Zunächst auf Deutsch und dann auf Französisch erschienen, ist die türkische Fassung dieses Schreibens in der Maiausgabe 2004 der Zeitschrift YARIN enthalten. Auf den ersten Blick erscheint das Schreiben als ein Protesttext gegen die Invasion des Irak durch die USA ohne Zustimmung der Vereinten Nationen. Doch die zur Begründung vorgebrachten Ansichten gehen über eine bloße Kritik an der amerikanischen Hegemonie hinaus; sie enthalten sorgfältige und beachtenswerte Überlegungen zur Rolle Europas in der internationalen Politik, zu seinem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und letztlich zu seiner historischen und kulturellen Identität. Auch wenn der Brief von einem politisch berechtigten Standpunkt ausgeht, nämlich der Ablehnung der expansionistischen Politik des amerikanischen Neokonservatismus, weist er aufgrund seines eurozentrischen Geschichts- und Politikverständnisses grundlegende Widersprüche auf. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, diese Widersprüche im Text von Derrida und Habermas aus der Perspektive der Türkei und der islamischen Welt zu untersuchen.
Die im gemeinsamen Text von Habermas und Derrida betonte „europäische Denkweise“ und „europäische Öffentlichkeit“ zeigen, dass Europa sich in einer tiefgreifenden Identitätssuche befindet. Es steht außer Zweifel, dass die Invasion des Irak und der ihr zugrunde liegende amerikanische Expansionismus dazu beigetragen haben, diese Identitätskrise an die Oberfläche zu bringen. Doch es ist klar, dass das Problem tiefer reicht als die bloße Formel „europäischer Liberalismus versus amerikanischer Konservatismus“. Fragen, die sich Europa heute in Bezug auf Identität und Selbstverständnis stellt, wurden in der islamischen Welt bereits seit Langem diskutiert: Ist Europa, wie es im 19. Jahrhundert behauptete, ein universelles Modell? Haben Gesellschaften, die die philosophischen Voraussetzungen der europäischen Aufklärung ablehnen, die Möglichkeit, alternative Modelle zu entwickeln? Repräsentiert Europa eine religionsbasierte Zivilisation, die auf der jüdisch-christlichen Tradition beruht, oder ist es ein geopolitisches Gebilde, das auf einem säkularen Weltbild fußt? Wenn Europa – wie wir es darstellen – einerseits auf der jüdisch-christlichen Tradition basiert, die durch Jerusalem symbolisiert wird, und andererseits auf einem säkularen Weltbild, das durch Athen repräsentiert wird, sowie auf deren Wiederzusammenführung in der Zeit der Aufklärung, wie konsequent ist es dann, wenn sich die Europäische Union als rein politische Einheit definiert, die von westlich-religiösen Werten und Vorannahmen unabhängig ist?
Die Betonung des Vorrangs des Völkerrechts gegenüber der amerikanischen Hegemonie durch Habermas und Derrida ist zweifellos anerkennenswert. Doch dass dieser Appell einerseits im Namen der Sicherung der Zukunft Europas erfolgt und andererseits keinerlei konkrete Vorschläge enthält, wie dieses Ziel erreicht werden kann, schwächt ihre Argumentation erheblich. Dass Europa im besagten Text als alternative „politische Gemeinschaft“ zu den Vereinigten Staaten präsentiert wird, verstärkt den Eindruck, dass eine eurozentrische Sichtweise auf Geschichte und Geopolitik als Grundannahme dient. Eine politische Analyse jedoch, die die Akteure der Welt auf Europa und Amerika reduziert, kann kein ausreichend erklärendes Rahmenmodell liefern. Die Notwendigkeit von „multi-aktorialen“ Analyseformen ist offensichtlich, wenn wir die intellektuelle und kulturelle Verengung überwinden wollen, die uns in internationalen Beziehungen und im Globalisierungsprozess begegnet. Die zentrale Schwäche jener Perspektive, die die weltpolitischen Entwicklungen weiterhin aus diesem Blickwinkel betrachtet – und etwa sagt, die Türkei sei eine „Brücke“ zwischen Ost und West, Alt und Neu, Moderne und Tradition – und damit die Türkei und somit auch die islamische Welt zu einem passiven Element dieses Spannungsverhältnisses macht, liegt genau in diesem einseitigen Akteursverständnis, das sich durch den gesamten Text von Habermas und Derrida zieht.
Bemerkenswert ist, dass bereits Peyami Safa in seinem Buch Türk İnkılabına Bakışlar von 1938 die Türkei als Brautgemach von Ost und West imaginiert hat – ein Zeichen dafür, wie tief diese Denkweise auch in unserer eigenen Geschichte verankert ist. Fast siebzig Jahre zuvor schrieb Safa:
„Und wenn A. Suares mit seiner Vorstellung von Asien als weiblich und Europa als männlich eine Wahrheit ausdrückt, dann können wir mit einer ähnlichen Fantasie die Türkei als das Brautgemach beider Kontinente darstellen – als den Ort, an dem sie sich vereinen, als den schönsten und dominierendsten Punkt der Begegnung und Vereinigung.“
(S. 116)
Wo beginnt Europa – und wo endet es?
Vielleicht ist das bedeutendste – und für uns am unmittelbarsten relevante – Beispiel dafür, wie sich Europa selbst definiert, an welchen Werten es sich orientiert und ob diese Werte oder ihre Ergebnisse universellen Anspruch erheben können, die Frage nach dem EU‑Beitritt der Türkei. Wenn wir dieses Thema nicht danach beurteilen, ob die Türkei die Kriterien eines EU‑Beitrittskandidaten erfüllt, sondern es im Hinblick auf Europas Selbstverständnis betrachten, wird eine Frage unvermeidlich: Wo beginnt und wo endet Europa – nicht nur geografisch, sondern auch im Hinblick auf politische und moralische Werte?
Wie Stuart Hall in seinem Werk Questions of Cultural Identity bemerkt, definieren alle Identitäten zunächst nicht, was sie sind, sondern was sie nicht sind – also was ausgeschlossen wird. Doch es ist unmöglich, dass eine kulturelle Identität ihre innere Geschlossenheit ausschließlich über die Abgrenzung nach außen erreicht. In diesem Sinne gewinnt die Frage, was heute oder künftig die äußeren Grenzen der europäischen Identität bestimmt, besondere Bedeutung. Das größte ungelöste Problem des Projekts einer gemeinsamen europäischen Identität besteht darin, welchen Platz die islamische Welt – mit der Türkei als ihrem Zentrum – einnehmen soll. Diese Welt wurde historisch stets als das „Andere“ der westlichen Identität wahrgenommen. Paradoxerweise ist Europa, in dem Versuch, sich innerhalb der westlichen Zivilisation als eigenständige Identität zu definieren, inzwischen gezwungen, auch Amerika zu „verandern“. Der heutige intellektuelle Gegensatz zwischen Europa und Amerika wurzelt genau in diesem Punkt: Wie kam es zu einem philosophischen Bruch zwischen den Werten, auf die sich Europa beruft, und der amerikanischen politischen Kultur, die diese Werte – trotz gemeinsamer Wurzeln – vermeintlich ins Leere laufen lässt?
Kurz gesagt: Europas Tendenz, Amerika auf der einen Seite als „Anderen“ zu konstruieren und gleichzeitig die islamische Welt – entweder als einen weiteren „Anderen“ oder als bedeutungslosen Akteur – zu ignorieren oder zu marginalisieren, zeigt, dass jede mögliche europäische Identität ihre eurozentrische Voreingenommenheit kaum überwinden wird. Der Brief von Derrida und Habermas liefert in dieser Hinsicht aufschlussreiche Hinweise.
Die nachdrückliche Betonung der jüdisch‑christlichen Tradition als Grundlage der europäischen Zivilisation durch Habermas und Derrida wirft genau das Problem auf, das wir hier hervorheben. Es ist keineswegs klar, ob auf diesem philosophischen Fundament ein inklusives Modell religiöser und kultureller Koexistenz entstehen kann, das über Ausgrenzung hinausgeht. Denn wir wissen, dass im Zusammenhang mit dem EU‑Beitritt der Türkei – also mit der Aufnahme in die europäische Kulturlandschaft – von europäischer Seite immer wieder das Argument der „kulturellen Inkompatibilität“ vorgebracht wird. Doch was hier mit „Kultur“ gemeint ist, ist in Wirklichkeit die Religion – und zwar der Islam, wenn auch nur implizit und indirekt.
Doch wie ist es möglich, dass die europäische Philosophie, die erklärt hat, „Gott ist tot“ und Religion sei aus dem öffentlichen Raum verbannt worden, plötzlich Religion wieder ins Zentrum rückt und sie zu einem ausschlaggebenden politischen Kriterium macht – sobald es um ein muslimisches Land geht? Europäer, die im Durchschnitt deutlich weniger religiös sind als Amerikaner, können plötzlich eine weitaus „religiösere“ Haltung einnehmen, wenn Religion als soziales und kulturelles Phänomen behandelt wird. Dies zeigt, wie tief verwurzelt Europas Selbstdefinition über die Konstruktion eines „Anderen“ ist – wie zuvor bereits dargelegt.
In diesem Zusammenhang scheint es, als ob sich die europäische Identität nicht über die Definition des Eigenen, sondern über die Abgrenzung vom Fremden definiert. Habermas und Derrida bieten innerhalb dieses Rahmens keine neue Perspektive an. Denn in Europa – insbesondere im Heimatland von Habermas, Deutschland – zeigt sich, dass die Debatten über eine gemeinsame europäische Identität sich ständig auf äußere Grenzlinien beziehen. Und die wichtigste dieser Linien bleibt der Islam als sozio‑kulturelle und geografische Einheit. Dass die EU‑Mitgliedschaft der Türkei zu einer innenpolitischen Streitfrage der deutschen Christdemokraten geworden ist, ist in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert.
Doch auch in sozialdemokratischen Publikationen finden sich Artikel, die sich aus kulturellen Gründen gegen einen EU‑Beitritt der Türkei aussprechen. Die zentrale Behauptung dieser Texte lautet, dass die europäische Identität durch den Beitritt der Türkei verwässert und in ihrer Kohärenz geschwächt würde. Hinter dieser Behauptung steht die Überzeugung, dass die Türkei – oder genauer gesagt: die von ihr repräsentierte Kultur, Religion und Geschichte – weiterhin ausgeschlossen bleiben soll.
Was die europäische Rechte zusätzlich beunruhigt, ist die Tatsache, dass viele der pro‑europäischen Stimmen in der Türkei zwar eine Beteiligung am europäischen Integrationsprojekt fordern, dabei aber gleichzeitig ihre eigene kulturelle Identität bewahren wollen. Anders gesagt: Diese Forderung kommt aus einem muslimischen Selbstverständnis, das Europa als ebenbürtig – nicht als überlegen – betrachtet. Wenn Europa die Türkei akzeptiert, dann müsste es eingestehen, dass nicht Religion oder Kultur, sondern Geografie das entscheidende Element der europäischen Identität ist. Ein solches Eingeständnis jedoch scheint – selbst für Intellektuelle wie Habermas und Derrida, die ständig die jüdisch‑christliche Tradition und eine säkulare Weltsicht betonen – schwer hinnehmbar.
Eine Rückkehr zur Aufklärung
Der Wunsch von Derrida und Habermas, Europa anhand des Aufklärungsmodells zu definieren, ist bemerkenswert und stellt ein weiteres Indiz dafür dar, dass sich Europa bis heute nicht von seinem eurozentrischen Selbstverständnis gelöst hat. Denn Europa mit einem Aufklärungsmodell zu erklären, das im 17. und 18. Jahrhundert entstand – auf einer großen, geschichtslosen Abstraktion und Fiktion basierend, wobei das Transzendente durch ein eindimensionales Verständnis von Vernunft und Wissenschaft ersetzt wurde – bedeutet letztlich zu behaupten, dass der Motor der Geschichte weiterhin allein Europa sei. Wenn Derrida und Habermas Begriffe wie „Multikulturalismus“ oder „Multireligiosität“ verwenden, meinen sie in Wahrheit einen Pluralismus, der sich ausschließlich innerhalb der jüdisch‑christlichen Tradition bewegt.
Wie Henri Pirenne in seinem Werk Mohammed und Karl der Große betont, wäre es ohne die Expansion des Islams an den westlichen Rand Eurasiens heute überhaupt nicht möglich, von einer Geschichte oder Geografie namens „Europa“ zu sprechen. Dieser Prozess, der im 8. und 9. Jahrhundert begann, als islamische Armeen jene ethnischen Gruppen Europas, die keine gemeinsame Identität besaßen, nach Norden drängten – und mit der Christianisierung Europas zusammenfiel –, markiert zugleich den Beginn der europäischen Geschichte. Betrachtet man die heutige Demografie Europas und seine strategischen Expansionszonen, wird deutlich, wie weit entfernt das von Habermas und Derrida entworfene Europa von der Realität ist. Kurz gesagt: Es besteht eine große und unübersehbare Kluft zwischen dem Bild Europas, das diese beiden Philosophen im 18. und 19. Jahrhundert einzufrieren versuchen, und der tatsächlichen historischen Entstehung sowie der gegenwärtigen Realität Europas.
Aus diesem Grund kann die Idee „Europa“ – so multikulturell und globalistisch sie auch erscheinen mag – ihrem grundlegend eurozentrischen Charakter nicht entkommen. Paradoxerweise müsste Europa, um tatsächlich zu einem universellen, multikulturellen und globalen Kontinent zu werden, den Anspruch auf „Europäizität“ aufgeben. Unter der historischen Last von Kreuzzügen, Kolonialismus, zwei Weltkriegen, dem Holocaust, Bosnien und Kosovo kann Europa nicht erwarten, sich erneut durch Abschottung zu definieren oder eine gemeinsame Identität ausschließlich über äußere Grenzen zu formen. Trotz all dem – und vielleicht gerade deshalb – bleibt der Versuch des Duos Habermas‑Derrida, das Projekt der europäischen Zivilisation mit einem letzten Anlauf zu retten, letztlich darauf beschränkt, Europa als universelles sozio‑politisches Modell zu präsentieren.
Zwar enthält ihre Perspektive eine implizite Kritik am amerikanischen Hegemonialanspruch, doch lässt sich sagen, dass ihre Hauptsorge der Erhalt des europäischen Universalitätsanspruchs ist. Das Problem liegt jedoch in der Definition selbst: Denn hier bedeutet „Universalität“ nicht die Anerkennung anderer Kulturen als gleichwertig, sondern vielmehr die Behauptung, dass die europäische Kultur die einzige sei, die rational, modern, zivilisiert, human, freiheits- und gerechtigkeitsorientiert ist. In diesem Bild ist die islamische Welt das Element, das systematisch an den Rand gedrängt oder ausgeblendet wird.
Tatsächlich wird bei der historischen Bilanz, die Habermas und Derrida ziehen, zwar der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und der Holocaust erwähnt – doch das Massaker an Muslimen in Bosnien und im Kosovo, das innerhalb der Grenzen der europäischen Zivilisation stattfand, bleibt unerwähnt. Auch das offenbart erneut den eurozentrischen Ton ihrer Argumentation.
Die Phasen, die das von Habermas als „unvollendetes Projekt“ bezeichnete europäische Aufklärungsmodell sowie der Modernisierungsprozess in den letzten 150 Jahren durchlaufen haben, zeigen deutlich, dass eine Rückkehr zur Aufklärung keinen gangbaren Weg darstellt. Anders als im 19. und frühen 20. Jahrhundert diskutieren nichtwestliche Gesellschaften heute nicht mehr darüber, welche Elemente des europäischen Modells sie übernehmen sollen, um eine modernisierte Gesellschaft im Einklang mit ihren eigenen Kulturen zu schaffen. Die eigentliche Frage, auf die die Welt heute eine Antwort sucht, lautet: Sind außerhalb der von Europa definierten Aufklärungswerte alternative Modelle und Paradigmen möglich – und wenn ja, wie und durch welche Prozesse lassen sie sich entwickeln?
Parallel dazu erleben europäische Gesellschaften womöglich tiefgreifendere politische, demografische und wirtschaftliche Transformationen als viele andere Regionen der Welt. Das Europa-Modell, das Habermas präsentiert, wirkt wie ein in der Zeit eingefrorenes Bild – es basiert nicht auf aktuellen sozio‑politischen Realitäten, sondern auf einer imaginierten Vorstellung Europas. Aus demselben Grund überrascht es kaum, dass im Brief von Habermas und Derrida, obwohl er große Ansprüche hinsichtlich Europas künftiger Identität erhebt, kein einziges Wort über die heute in Europa lebenden muslimischen Minderheiten zu finden ist.
In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass sich die Frage des Islams in Bezug auf eine gemeinsame europäische Identität nicht durch ein einfaches „Nein“ zur EU‑Mitgliedschaft der Türkei erledigen lässt. Während Muslime in den drei tragenden Ländern Europas – Deutschland, Frankreich und Großbritannien – sowie in den Niederlanden und Belgien mit ihren dynamischen demografischen Indikatoren gesellschaftlich zunehmend sichtbar werden, bleiben sie außen vor im Projekt einer gemeinsamen Identität, dessen philosophische Grundlagen Habermas und Derrida diskutieren.
Ebenso muss festgestellt werden, dass Europa auch nicht in der Lage war, ein attraktives Ziel für nichtmuslimische Einwanderer ohne gemeinsamen europäischen Hintergrund zu werden – etwa für Menschen aus Indien oder China. Ein Beispiel dafür ist das Scheitern der deutschen „Green Card“-Initiative für IT‑Fachkräfte, die seit Jahren kaum Wirkung zeigt. Kurz gesagt: Europas Universalitätsanspruch kann nicht über ein altes imperialistisches Diskursmodell hinausreichen, das anderen seine Wege und Methoden lehren will – statt eine Anziehungskraft durch kulturelle Offenheit auszuüben.
Abschließend muss noch kurz darauf eingegangen werden, was die Verteidigung des europäischen Modells gegenüber Amerika durch Habermas und Derrida für das Verhältnis zwischen Europa und den USA bedeutet. Eine grundlegende Unterscheidung kann hier zwischen zwei Reaktionen innerhalb der westlichen Zivilisation nach der Aufklärung gezogen werden: Die eine ist die „modernistische“ Reaktion Europas, die zu den heiligen Prinzipien der Aufklärung – Vernunft und Wissenschaft – zurückkehren möchte. Die andere, vertreten durch Amerika, lässt sich als „postmodernistisch“ bezeichnen: Sie basiert auf instrumenteller Rationalität, Pragmatismus, kapitalistischer Expansion und politischem Hegemonismus.
Rumsfelds Bezeichnung der europakritischen Länder im Irakkrieg als „altes Europa“ brachte diese tiefen, lange schwelenden Spannungen an die Oberfläche. Amerikas relative Überlegenheit in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht hat das Problem weiter verschärft. Die Antwort von Paul Kennedy auf den Habermas‑Derrida‑Brief – veröffentlicht am 24. Juni 2003 im Guardian – war in diesem Sinne bezeichnend: Er forderte die Europäer sinngemäß auf, mit der Philosophie aufzuhören, die UNO zu reformieren, die Wirtschaft zu stärken und die militärische Macht auszubauen. Dies darf nicht einfach als typische Reaktion amerikanischen Pragmatismus abgetan werden. Vielmehr geht es um die globalen Folgen des Wettstreits zwischen diesen beiden Modellen.
In diesem Sinne beschränkt sich die tiefe Spannung zwischen Europa und Amerika nicht nur auf die militärischen und wirtschaftlichen Drohungen, die von den USA ausgehen. Europa verliert – wie auch andere Regionen der Welt – zunehmend an Boden gegenüber der aggressiven und expansiven amerikanischen Popkultur und Unterhaltungsindustrie. Das offizielle Verbot Frankreichs vor einigen Jahren, insbesondere amerikanisch-englische Fremdwörter in die französische Sprache aufzunehmen, ist nur ein Beispiel für diese Besorgnis.
Das von Amerika vertretene Gesellschaftsmodell – „pluralistisch und liberal im Inneren, expansionistisch und hegemonial nach außen“ – bereitet nicht nur Europa, sondern auch jenen Ländern des Nahen Ostens große Sorgen, die tatsächlich dem amerikanischen Imperialismus ausgesetzt sind.
Doch das eigentliche Problem liegt auf einer globaleren Ebene: Ganz gleich, ob es sich um europäische, amerikanische, afrikanische oder asiatische Gesellschaften handelt – die zentrale Frage ist, auf welchen politischen und moralischen Werten sich die Menschheit künftig gründen wird und in welche Richtung sie sich entwickeln soll.
Ist Säkularisierung unausweichlich?
Im Rahmen dieses Artikels muss kurz auf den Prozess der Säkularisierung eingegangen werden, der im Text von Habermas und Derrida besonders betont wird. Habermas und Derrida führen den relativen Erfolg Europas auf die Säkularisierung des öffentlichen Raums zurück und vertreten die Auffassung, dass gerade dieser Aspekt das europäische Modell sowohl von Amerika als auch von anderen Erfahrungen unterscheidet. Offensichtlich bezieht sich Habermas bei dieser Einschätzung auf die „religiöse“ Identität Amerikas – insbesondere auf die Regierung Bush. Doch als prominenter Vertreter des säkularen Humanismus erhebt Habermas einen umfassenderen Anspruch hinsichtlich der Strukturierung des öffentlichen Raums.
Diese Sichtweise, die insbesondere nach dem 11. September wieder aufgegriffen wurde, wird auch von westlichen Denkern wie Bernard Lewis vertreten, die meinen, traditionelle, religionsbasierte Gesellschaften – insbesondere die islamische Welt – müssten, um Teil der globalen Öffentlichkeit zu werden, ihre eigene Aufklärung durchlaufen und einem radikalen Säkularisierungsprozess unterzogen werden, ähnlich dem Weg der jüdisch-christlichen Tradition. Habermas bekräftigt diese These im letzten Kapitel seines Werks Die Zukunft der menschlichen Natur, in dem er argumentiert, dass Europas Erfolg in Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Staatsbürgerschaft auf der Verankerung des öffentlichen Raums in einer säkularen Philosophie beruhe.
Diese Beobachtung mag auf Länder wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande zutreffen, ist jedoch nicht geeignet, Staaten wie England, Spanien oder Italien zu erklären. Denn es ist nicht möglich, die säkularen Praktiken dieser Länder auf ein einheitliches Modell zu reduzieren.
Noch bedeutsamer ist, dass das Modell eines radikalen Säkularismus – das die vollständige Entfernung von Religion und religiösen Werten aus dem öffentlichen Raum fordert (nur eines von mehreren Säkularitätsmodellen) – nur durch politische Repression aufrechterhalten werden kann. Die Trennung zwischen institutionalisierter Religion, also der Kirche, und politischer Macht bedeutet selbst in westlichen Gesellschaften nicht, dass Religion vollkommen inaktiv oder bedeutungslos geworden ist.
Die Modernisierungstheorien des frühen 20. Jahrhunderts gingen davon aus, dass Modernität und Säkularisierung zwangsläufig miteinander einhergehen und dass soziale Kohärenz nur auf säkularer Grundlage möglich sei. Doch heute zeigt sich – sowohl in Europa und Amerika als auch in der islamischen Welt, in Israel und Indien – dass Religion keineswegs aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurde, sondern im Gegenteil eine zentrale Rolle in gesellschaftlichen Prozessen spielt. Mit anderen Worten: Der Wettstreit zwischen säkularen und religiösen Weltanschauungen um ihren Platz in der Öffentlichkeit ist heute sichtbarer denn je.
Wie William Connolly in seinem Buch Why I Am Not a Secularist? betont, besitzt der Anspruch, der öffentliche Raum müsse ausschließlich auf säkularen Prinzipien beruhen, keinen besonderen Vorrang gegenüber religiösen Argumenten. Habermas ist sich dessen bewusst und gesteht ein, dass die Säkularisierung zu einer Barriere zwischen dem Westen und der islamischen Welt sowie anderen traditionellen Gesellschaften geworden ist. Zudem räumt er ein, dass der Slogan „Gott ist tot“ westliche Gesellschaften teuer zu stehen gekommen ist. In diesem Sinne ist es bemerkenswert, dass Habermas Europa als eine „postsäkulare“ Gesellschaft definiert. Dies deutet zugleich darauf hin, dass die alternativen Perspektiven, die islamische Gesellschaften als Antwort auf die Säkularisierung entwickelt haben, nicht nur für sie selbst von Bedeutung sind, sondern auch für westliche Gesellschaften, die sich heute in den letzten Phasen des Säkularisierungsprozesses befinden.
Wenn wir zum Habermas-Derrida-Text zurückkehren, fallen zwei bemerkenswerte Paradoxien ins Auge. Zum einen ist es erstaunlich, dass Derrida – der als Vater der postmodernen Analysemethode gilt und dessen Philosophie auf radikalem Antirealismus basiert – einen Text verfasst hat, der zu einer Rückkehr zur klassischen europäischen Aufklärung aufruft. Ist es überhaupt möglich, den reduktionistischen Rationalismus der klassischen Aufklärung, der auf epistemischer Dominanz beruht, mit Derridas Dekonstruktion von Wahrheit als sprachliches Konstrukt zu versöhnen?
Im Fall von Habermas begegnet uns ein anderes Paradoxon: Soweit bekannt, ist er unter den lebenden europäischen Philosophen derjenige, der die islamische Welt am häufigsten besucht hat. Seine Vorträge in Ägypten, Iran und der Türkei in den letzten Jahren wurden sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa breit rezipiert. Kurz gesagt: Habermas hat sich mit der islamischen Welt auseinandergesetzt – oder zumindest versucht, dies zu tun. Dass diese Auseinandersetzung jedoch keinerlei Spuren in seinen schriftlichen Arbeiten hinterlassen hat, stellt eine bemerkenswerte Form der „Vergessenheit“ dar. In seinen jüngsten Büchern und Artikeln ebenso wie im vorliegenden Brief findet sich kein einziger Verweis auf die islamische Welt. Man könnte mit Recht sagen, dass dieses „Fehlen“ kein Zufall ist, sondern eine Folge des bereits angesprochenen Eurozentrismus und der Gewohnheit, die Welt aus einem einzigen Zentrum heraus wahrzunehmen und zu konstruieren.