Die israelische Bedrohung; Notwendigkeit einer Aktualisierung der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik
Die israelische Bedrohung – Vom subjektiven/wahrgenommenen zum objektiven/tatsächlichen Niveau und die Notwendigkeit einer Aktualisierung der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik
Israels expansionistische Politik verwandelt den gesamten Nahen Osten geradezu in ein „Operationsfeld“ und erschüttert die regionalen Sicherheitsgleichgewichte zutiefst. Die Angriffe am 9. September in der katarischen Hauptstadt Doha zielten nicht nur auf die Führungsebene der Hamas ab, sondern machten auch erneut deutlich, dass die Länder der Region über keine abschreckende Kapazität verfügen, um äußeren Interventionen entgegenzutreten. Diese Situation machte die große Lücke in der Sicherheitsarchitektur des Nahen Ostens noch sichtbarer.
Die jüngsten Angriffe und die Erklärungen israelischer Offizieller zeigen, dass Israels grenzenloses Operationsverständnis kein Ausnahme-Reflex, sondern inzwischen eine dauerhafte Strategie ist. Mit offener Rückendeckung aus dem Westen verfolgt die Regierung in Tel Aviv das Ziel, die regionale Status quo-Ordnung nach ihren eigenen Sicherheitsprioritäten neu zu gestalten. Dieser Ansatz bedroht zwar in erster Linie die arabischen Staaten des Nahen Ostens, bringt aber auch für die Türkei erhebliche Konsequenzen mit sich. Denn die Beziehungen zwischen Ankara und Tel Aviv haben sich in letzter Zeit zunehmend zu einem „Nullsummenspiel“ entwickelt, bei dem der Gewinn der einen Seite den Verlust der anderen bedeutet.
Dass Israel die regionale Status quo-Ordnung im Einklang mit seinen eigenen Interessen und Prioritäten transformiert, würde eine neue Ordnung hervorbringen, die die strategischen Interessen der Türkei unmittelbar bedroht. Daher kann Ankara diesem Prozess nicht tatenlos zusehen. Auch wenn die arabischen Staaten des Nahen Ostens theoretisch eine Vision kollektiver Verteidigung vertreten, haben die historischen Erfahrungen gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, eine dauerhafte und starke militärische Abschreckung aufzubauen. Dieses Bild führt zu dem Ergebnis, dass Israels Strategie, die regionale Ordnung gemäß seinen eigenen Sicherheitsprioritäten zu gestalten, in der Region kaum auf ernsthaften Widerstand stößt.
In der Vergangenheit hatte Ankara Versuche, die regionale Ordnung zu seinem Nachteil zu verändern, mit scharfen Reaktionen beantwortet und diese Vorhaben weitgehend vereitelt. Eine der bedeutendsten Transformationen in der türkischen Außenpolitik fand während des syrischen Bürgerkriegs statt: Die Türkei änderte ihre „Engagement-Regeln“ zum ersten Mal seit der Zypern-Friedensoperation und etablierte eine effektive militärische Präsenz jenseits ihrer Grenzen. Doch mit den israelischen Angriffen vom 9. September wurde eine neue und weitaus kritischere Schwelle überschritten. Somit machen die von Israel in der Region ausgedehnten Operationen eine tiefgreifende Neustrukturierung des türkischen Sicherheits- und Außenpolitikverständnisses unvermeidlich. Kurz gesagt: Im Nahen Osten geraten die Steine erneut in Bewegung – und die Türkei muss sich im Zentrum dieses Spiels positionieren.
Die Suche nach einer neuen Status quo-Ordnung im Nahen Osten und das türkisch-israelische Gleichgewicht
Seit der Gründung der Republik hatte die Türkei über lange Zeit eine nach innen gerichtete Politik verfolgt und sich davor gescheut, direkt in die Entwicklungen der angrenzenden Regionen einzugreifen. Die türkische Außen- und Sicherheitspolitik war bis Anfang der 2000er Jahre im Wesentlichen auf eine Positionierung innerhalb des westlichen Blocks und die Konsolidierung dieser Position ausgerichtet. Die Integration in die NATO und andere westliche Sicherheitsorganisationen bildete die Hauptsäule der türkischen Sicherheitsstrategie.
Doch während des syrischen Bürgerkriegs machten die Missachtung der türkischen Sicherheitsinteressen durch die westlichen Verbündeten und die Funktionslosigkeit westlicher Sicherheitsgarantien eine grundlegende Transformation der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik notwendig. In dieser Zeit ergriff die Türkei eine Reihe von Maßnahmen, um die von Syrien ausgehenden Bedrohungen für die nationale Sicherheit auszugleichen. Schließlich übernahm die Türkei ein neues Set von Engagement-Regeln, die militärische und nachrichtendienstliche Operationen jenseits der Landesgrenzen ermöglichten. Parallel dazu wurden im Rahmen der Suche nach alternativen Sicherheitsoptionen Abkommen mit Russland im Bereich der Luftverteidigungssysteme geschlossen.
Die 2012 aktualisierten Engagement-Regeln, die vor allem auf die Abwehr von Bedrohungen an den nationalen Grenzen ausgerichtet waren, trugen zwar einen Aspekt in sich, der Operationen jenseits der Grenzen erlaubte, blieben jedoch im Wesentlichen defensiv geprägt. Daher war es normal, dass dieser Ansatz gegenüber tiefgreifenden Veränderungen der regionalen Status quo-Ordnung unzureichend sensibel blieb.
Doch nachdem die israelische Bedrohung nach dem 9. September nicht mehr nur auf der Wahrnehmungsebene, sondern auf objektiver/tatsächlicher Ebene angekommen ist, haben die vor zehn Jahren beschlossenen, überwiegend defensiv ausgerichteten Engagement-Regeln ihre Aktualität verloren. An diesem Punkt besteht ein dringender Bedarf an einer proaktiven Außen- und Sicherheitsstrategie, die geeignet ist, der Fähigkeit Israels zur Transformation der regionalen Ordnung zum Nachteil der Türkei entgegenzutreten und potenziellen Instabilitäten gerecht zu werden. Die Zeit, in der die Türkei ihre nationale Sicherheit allein durch militärische Präsenz südlich des Amanos-Gebirges gewährleisten konnte, ist vorbei.
Auch wenn Israels entfesselte Aggression seit dem 7. Oktober die Türkei bisher nicht direkt ins Visier zu nehmen scheint, zielt sie doch darauf ab, die gesamte regionale Ordnung nach israelischen Interessen neu zu gestalten. Die in den vergangenen Wochen in den Straßen von Tel Aviv aufgehängten Plakate mit dem Titel „Abraham-Schild“ waren der Ausdruck dieses israelisch zentrierten Status quo-Plans. Sollte dieser Plan erfolgreich umgesetzt werden, wird er zwangsläufig schwerwiegende Folgen zulasten der strategischen Interessen der Türkei haben.
Tel Aviv ist durch die geschaffenen militärischen und wirtschaftlichen Druckmechanismen zu einer bestimmenden Macht in den politischen Ordnungen Syriens und des Libanon geworden. Dass Israel der libanesischen Regierung heute die Entwaffnung der Hisbollah auf die Agenda setzen kann, ist ein konkreter Beleg dafür, dass seine Politik, den Süden des Libanon nach den eigenen Sicherheitsprioritäten zu gestalten, eine entscheidende Phase erreicht hat. Ebenso zeigt die Fähigkeit Israels, durch seinen Einfluss auf die Drusen und die YPG eine starke Zentralregierung in Damaskus zu verhindern, dass es über ein Potenzial verfügt, das weit über die Palästina-Frage hinausreicht und auf eine Neugestaltung der gesamten regionalen Ordnung abzielt.
Die Angriffe von Doha zeigen, dass diese israelische Macht nicht auf Syrien und den Libanon beschränkt bleiben wird. Wenn sich dieser Einfluss im Laufe der Zeit auch auf Jordanien, Ägypten und die Golfstaaten ausweitet, könnte dies für die Türkei regionale Isolation bedeuten. Ein solches Szenario würde nicht nur die Wirksamkeit der türkischen Politik im Nahen Osten schwächen, sondern auch dazu führen, dass die Türkei geopolitisch, geoökonomisch und geostrategisch zunehmend in die Enge getrieben wird. Angesichts des Nullsummenspiels zwischen der Türkei und Israel wird eine regionale Status quo-Ordnung, die nach den israelischen Sicherheitsprioritäten geformt ist, die Entstehung von Regimen fördern, die feindlich gegenüber der Türkei eingestellt sind, und die Verbreitung anti-türkischer Positionen in der Region erleichtern.
Im Rahmen der neuen, zu aktualisierenden Engagement-Regeln muss die Türkei die von Israel auf die gesamte Region ausgedehnten militärischen Operationen als direkte Bedrohung der eigenen nationalen Sicherheit betrachten. Ankara darf sich dabei nicht auf den Schutz der eigenen nationalen Interessen beschränken, sondern muss insbesondere die arabischen Staaten des Nahen Ostens, allen voran Irak und Syrien, zu einer gemeinsamen Haltung gegen die israelische Aggression ermutigen und ihre militärisch-industriellen Kapazitäten stärken, um die von Israel geplanten tiefgreifenden Veränderungen der regionalen Ordnung zu verhindern. In der Vergangenheit hatte die Türkei Paktinitiativen angeführt, die Iran, Pakistan und Irak umfassten, um der sowjetischen Expansion zu begegnen. Heute kann sie eine ähnliche Anstrengung unternehmen, um das israelische Revisionismusprojekt auszubalancieren.
İsraels Zwang zur Umgestaltung der regionalen Statik und die strategischen Notwendigkeiten der Türkei
Israels Politik, die regionale Statik gemäß seinen eigenen Sicherheitsprioritäten zu verändern, hat eine tiefgreifende Revision der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik von einer Option zu einer zwingenden Notwendigkeit gemacht. In diesem Zusammenhang lassen sich die grundlegenden Parameter des strategischen Wandels, den Ankara vollziehen muss, unter vier Hauptüberschriften analysieren:
Erstens muss sich die türkische Bedrohungswahrnehmung grundlegend wandeln. Über viele Jahre hinweg standen der PKK/YPG-Terror, der Syrienkrieg und die Spannungen im östlichen Mittelmeerraum im Zentrum der sicherheitspolitischen Prioritäten Ankaras. Die zunehmend aggressive Regionalpolitik Israels macht jedoch eine Neudefinition dieser Prioritäten erforderlich. Denn Israels Bemühungen, die regionale Statik nachhaltig zu Ungunsten der Türkei zu verändern, stellen für Ankara keine indirekte, sondern eine unmittelbare Bedrohung dar. Dies zwingt zu einem entscheidenden Bruch in der türkischen Sicherheitsdoktrin. Die bislang dominante, „terrorzentrierte“ Bedrohungswahrnehmung muss sich immer deutlicher in Richtung einer „staatenzentrierten“ Bedrohungsanalyse entwickeln.
Zweitens ist die Erneuerung der militärischen Doktrin zu einer nicht aufschiebbaren Pflicht geworden. Israels Fähigkeit zu langreichweiten- und nachrichtendienstgestützten Operationen zeigt, dass sich die Türkei nicht mit grenzüberschreitenden Operationen begnügen kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ein neues Gleichgewicht in der Verteidigungsstrategie der türkischen Streitkräfte zu schaffen. Ein stärkeres Luftverteidigungssystem, eine erweiterte Raketenabschreckung und fortschrittliche elektronische Kriegführung sind für die Sicherheit der Türkei unverzichtbar geworden. Ankara muss daher nicht nur auf numerische Überlegenheit setzen, sondern eine „technologische Balance“ als Grundlage der Abschreckung aufbauen.
Drittens ist die Neupositionierung der regionalen Allianzen nicht länger eine Option, sondern eine strategische Pflicht. Dass Israel Katar im Rahmen der Golfgeopolitik ins Visier nimmt, macht es für Ankara unvermeidlich, die bestehende Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft mit Doha nicht nur zu erhalten, sondern auf eine neue Ebene zu heben. Diese Vertiefung sollte durch konkrete Kooperationsmechanismen wie gemeinsame Militärübungen, Projekte zur Energiesicherheit und Technologietransfer in der Verteidigungsindustrie vorangetrieben werden.
Darüber hinaus zwingt der wachsende Sicherheitsdruck auf Libanon und Jordanien die Türkei dazu, institutionalisierte sicherheitspolitische Dialoge mit der arabischen Welt zu entwickeln. Diese Dialoge dürfen sich nicht nur auf diplomatische Kontakte beschränken, sondern müssen durch Sicherheitsforen, Nachrichtenaustausch, Grenzsicherungskooperationen und gemeinsame Krisenmanagementmechanismen gestützt werden. Ankara könnte auf diese Weise die von Israel in der regionalen Sicherheitsarchitektur hinterlassenen Lücken füllen und das Vertrauen arabischer Gesellschaften als Sicherheitsakteur gewinnen. Die historische Erfahrung der von der Türkei initiierten Sadabat- und Bagdad-Pakte zur Eindämmung der sowjetischen Expansion sollte in Erinnerung gerufen werden. Angesichts der aktuellen Lage ist die Führungsrolle Ankaras bei der Bildung einer breiter angelegten regionalen Militärallianz gegen Israels Expansionismus keine bloße Option mehr, sondern eine strategische Notwendigkeit.
Auch die Beziehungen zum Golf-Kooperationsrat (GKR) haben in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewonnen. Der derzeitige Beobachterstatus der Türkei darf nicht länger eine bloße symbolische Position sein; Ankara sollte zu einem aktiven Akteur werden, der direkt in die Krisenmanagementprozesse, die Verteidigungskoordination und die außenpolitische Agenda des GKR eingebunden ist. Dieser Wandel würde es der Türkei ermöglichen, nicht nur am Golf, sondern in der gesamten arabischen Sicherheitsarchitektur Teil der Gleichung zu werden.
Schließlich wird eine normative Dimension in der türkischen Außenpolitik zunehmend unvermeidlich. Israels direkte Angriffe auf Zivilisten sollten Ankara dazu veranlassen, seine menschenrechtliche und völkerrechtliche Rhetorik stärker und entschiedener in den Vordergrund zu stellen. Eine solche Rhetorik könnte über die Palästinafrage hinaus eine strategische Grundlage für den Aufbau eines „anti-revisionistischen Blocks“ im regionalen Maßstab schaffen.
Israels neue Sicherheitsstrategie, die auf Aggression und operativer Kapazität beruht, erschüttert einerseits die bestehenden Gleichgewichte im Nahen Osten grundlegend, andererseits stellt sie für die Türkei eine unmittelbare Herausforderung dar. Mit den Anschlägen von Doha ist die israelische Bedrohung in der regionalen Sicherheitsliteratur nicht länger „subjektiv/illusorisch“, sondern zu einer „objektiven/tatsächlichen“ Realität geworden. In einem solchen Umfeld reicht es nicht mehr aus, wenn Ankara an den bestehenden Einsatzregeln und einem defensiven Abschreckungskonzept festhält.
Die Türkei muss diese neue Ära nicht nur mit Krisenmanagementreflexen, sondern durch eine Revision der Bedrohungswahrnehmung, den Wiederaufbau der militärischen Doktrin mit Schwerpunkt auf technologischer Balance, die Institutionalisierung und Vertiefung regionaler Allianzen sowie durch die stärkere Nutzung normativer Rhetorik als strategisches Instrument gestalten. Diese Aktualisierung wird es der Türkei ermöglichen, sowohl ihre nationale Sicherheit zu festigen als auch ihre Rolle als führender und gestaltender Akteur in der regionalen Sicherheitsarchitektur zu stärken.
Kurz gesagt: In einer Zeit, in der sich die Steine im Nahen Osten neu ordnen, werden die Optionen für die Türkei zunehmend enger. Ankara steht nun vor zwei Wegen: Entweder wird es ein passiver Bestandteil der von Israel nach seinen eigenen Prioritäten gestalteten regionalen Statik, oder es wird durch aktive und vielschichtige strategische Schritte zum gestaltenden Akteur der regionalen Ordnung. Diese Entscheidung wird nicht nur die Gegenwart, sondern auch die langfristige geopolitische Zukunft der Türkei bestimmen.
*Doç. Dr. Necmettin Acar, Vorsitzender des Fachbereichs Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Mardin Artuklu, [email protected]