Die im Gewissen vollendete Reise
Um die schwarzen Wolken über Gaza zu vertreiben, wehte dieses Mal der Wind vom Meer her: der Sumud-Wind. Schon der Name trug eine Botschaft in sich – Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Widerstand. Die Schiffe brachen mit Hilfsgütern wie Mehl, Medikamenten und Decken auf. Doch ihre Fracht beschränkte sich nicht darauf. Vielmehr trugen sie eine symbolische Botschaft: dass ein Volk nicht vergessen, dass es gesehen und gehört wird. Die wenigen auslaufenden Schiffe wussten vielleicht, dass sie die Mauern der Blockade nicht physisch durchbrechen konnten, aber sie wollten der Geschichte zeigen, dass das menschliche Gewissen noch nicht verloren ist.
Die Reise wurde unterbrochen, die Schiffe gestoppt, die Aktivist*innen festgenommen. Die Flotte konnte ihre Mission nicht vollständig erfüllen, aber ihr eigentliches Ziel – die Gewissen der Menschen zu erreichen – wurde erfolgreich erreicht.
Für Palästina repräsentierte diese Flotte weit mehr als Mehl und Decken. Unter dem Schatten des Krieges suchte die Bevölkerung von Gaza einen Hoffnungsschimmer. Das Auslaufen der Flotte war wie ein fernes Licht, das aus dem Fenster einer belagerten Stadt zu sehen war. Für einige Tage öffneten sich die Türen der Hoffnung. Doch Eingreifen und Blockade löschten dieses Licht schnell wieder. Für die Menschen war dies ein vertrautes Muster: zuerst Hoffnung, dann Enttäuschung. Doch wie immer wuchs in dieser Enttäuschung auch der Widerstand. Denn die Flotte hatte weit über den Hafen hinaus Wirkung gezeigt. Für die Palästinenser war dies ein neues Kapitel in der seit der Nakba 1948 bestehenden Geschichte. Auch wenn sie ihres Landes beraubt und von Blockaden umgeben waren, gelang es ihnen, sich auf symbolische Weise bemerkbar zu machen. Die Sumud-Flotte wurde zum letzten Glied dieser Kette der Erinnerung.
Für Israel stellte die Flotte eine kleine, aber symbolische Herausforderung dar. Die Marine griff ein, die Schiffe wurden gestoppt, die Aktivist*innen festgenommen. Der Premierminister präsentierte die Operation als Sieg der nationalen Sicherheit. Für die inländische Öffentlichkeit war dies die Botschaft: Blockade intakt, Staat entschlossen. Seit 1967 verfolgt Israel dieses Sicherheitsparadigma: alles unter Kontrolle halten, jede Initiative als Bedrohung werten. Die Sumud-Flotte fügte sich in dieses Muster ein. Doch international zeichnete sich ein anderes Bild ab. Die Bilder stärkten den Eindruck eines Staates, der Hilfsmaßnahmen blockiert. Israel gewann auf Sicherheitsebene, verlor aber in Diplomatie und Propaganda. Diese Dynamik wiederholte historische Muster: militärische Überlegenheit führte zu Legitimationsverlust, wie 1982 im Libanon oder 2008 erneut in Gaza. Die Sumud-Flotte offenbarte diese Widersprüche erneut.
Im Westen löste die Flotte unterschiedliche Reaktionen aus. Spanien kündigte an, ein Kriegsschiff zur Unterstützung zu entsenden, Italien versprach ebenfalls maritime Ressourcen. Schweiz und andere europäische Staaten griffen diplomatisch ein, nachdem ihre Staatsbürgerinnen festgenommen worden waren. Dagegen blieben die USA und viele westliche Länder vorsichtig und vermieden direkte Konfrontation mit Israel. Dieses zweigeteilte Bild spiegelte die seit langem bestehende Ambivalenz des Westens: Menschenrechte und universelle Werte werden hochgehalten, doch bei Palästina dominiert Realpolitik und Schweigen. Die Straßen sprachen jedoch eine andere Sprache: Hafenarbeiter verhinderten das Beladen von Waffen für Israel, Gewerkschaften riefen zur Solidarität auf, Plätze füllten sich mit „Öffnet den Weg nach Gaza“-Slogans. Die Festnahmen der Aktivistinnen lösten eine neue Welle des Zorns in der westlichen Öffentlichkeit aus. So brachte die Sumud-Flotte die Doppelmoral staatlicher Schweigsamkeit und das laute Gewissen der Menschen gleichzeitig zum Ausdruck.
Auch in der islamischen Welt fand die Flotte große Resonanz. Führende Persönlichkeiten sandten Solidaritätsbotschaften, die Bevölkerung ging auf die Straße. Zeitungen berichteten groß, auf den Plätzen wurde lautstark protestiert. Doch konkrete staatliche Maßnahmen blieben begrenzt – ein Spiegelbild des historischen Dilemmas der Region. Seit 1948 ist die palästinensische Sache ein Symbol in der arabischen und islamischen Welt, doch auf staatlicher Ebene hat sich kein nachhaltiger politischer Wille manifestiert. Rhetorik war stark, Politik unzureichend. Die Kluft zwischen dem Aufschrei der Bevölkerung auf den Straßen und dem Schweigen der Regierungen an den Verhandlungstischen wurde erneut sichtbar. Dennoch war die Türkei erneut die lautstärkste Stimme des Gewissens.
Letztlich erreichte die Sumud-Flotte Gaza nicht. Doch die eigentliche Reise fand im Gedächtnis und Gewissen der Menschen statt. Für Palästina bedeutete sie die erneute Erinnerung an Hoffnung und Widerstand. Für Israel zeigte sie, wie Sicherheitsüberlegenheit durch Legitimationsverlust überschattet wird. Für den Westen offenbarte sie die Kluft zwischen Werten und Interessen. Für die arabische und islamische Welt war sie sowohl Symbol von Einheit als auch von Fragmentierung. Die auf See gestoppten Schiffe setzten ihre Reise im Gewissen der Menschheit fort.
Die Geschichte der Sumud-Flotte hat uns eine Wahrheit erneut vor Augen geführt: Kriege werden nicht nur an den Fronten gewonnen oder verloren. Ein Krieg findet ebenso im Gedächtnis und im Gewissen der Menschen statt. Manchmal erreicht ein Schiff sein Ziel, auch wenn es den Hafen nicht erreicht. Denn das eigentliche Ziel sind nicht die Küsten, sondern das Gewissen selbst. Daher blieb die Reise der Sumud nicht unvollendet – im Gegenteil, sie fand ihre Vollendung im gemeinsamen Gewissen der Menschheit. Und vielleicht war sie der Anlass dafür, dass in der Mauer eine heilige Bresche geschlagen wurde.