Die Geschichte der Lüge schreiben und öffentliche Intellektualität
Der französische Philosoph Jacques Derrida, der sich selbst als in Algerien geborener „arabischer Jude“ bezeichnete, zweifelte daran, ob sich die Geschichte der Lüge überhaupt schreiben lässt. Seiner Ansicht nach ist es „schwierig zu glauben, dass die Lüge eine Geschichte hat. Wer könnte es wagen, die Geschichte der Lüge zu erzählen? Selbst wenn man annähme, dass die Lüge eine Geschichte habe, müsste man sie erzählen, ohne dabei zu lügen.“
Da der Gegenstand einer Geschichte der Lüge notwendigerweise die Lüge selbst wäre – und die traditionelle Definition der Lüge ein absichtliches Täuschen oder Irreführen anderer umfasst – während ihr Gegenteil, ob faktisch (außerhalb des Ego) oder zustandsbezogen (innerhalb des Ego), ein wahres Faktum oder ein wahrer Zustand wäre, ist es schwer, die Geschichte der Lüge zu entwerfen. Denn die Lüge lässt sich nicht in Wissen fassen; anders gesagt: Eine Lüge, die mit dem Anspruch der Wahrheit ausgesprochen wird, kann nicht als Lüge zum Wissensobjekt gemacht werden, ohne sie als Wahrheit anzuerkennen. Die Lüge kann nicht Gegenstand des Wissens sein, sie liegt jenseits des Wissens. Die Schwierigkeiten, eine Geschichte der Lüge zu entwerfen, entspringen also den Eigenschaften der Lüge selbst. „Der Lügner ist per definitionem jemand, der behauptet, die Wahrheit zu sagen (das ist ein Strukturgesetz und hat keine Geschichte).“
Derridas Definition der Lüge wird so zu einer, die sowohl andere Definitionen der Lüge als auch jede Form der Historisierung der Lüge infrage stellt – etwa die Unterscheidung zwischen klassischer Lüge und moderner politischer Lüge, wie sie bei Koyré oder Arendt zu finden ist. Die Lüge wird vom Sprechenden mit dem Anspruch der Wahrheit ausgesprochen. Eine Aussage, die nicht diesen Wahrheitsanspruch trägt, mag etwas anderes sein, ist aber keine Lüge.
Geht man von einer solchen Definition aus, lassen sich die Schwierigkeiten, eine Geschichte der Lüge zu schreiben, grob auf drei Gründe zurückführen: Erstens erschwert die begriffliche Definition der Lüge ihre Historisierung. Ist es überhaupt möglich, eine Lüge, die im Glauben an ihre Wahrheit ausgesprochen wird, als Lüge zu begreifen? Zweitens: Kann man sich überhaupt auf eine Definition dessen, was Lüge ist, einigen – und selbst wenn, lässt sich dann eine Geschichte erzählen, die ausschließlich aus Lügen besteht? Drittens: Ist es innerhalb der Ordnung einer historischen Narration überhaupt möglich, die Geschichte der Lüge als „wahre Geschichte“ zu erzählen?
Derridas Annahme über die Geschichte der Lüge gründet, wie deutlich wird, auf der Frage, ob die Lüge, die er jenseits des Wissens verortet, überhaupt begrifflich bestimmt werden kann. Dass die Feststellungen dieses Dekonstruktionsmeisters über die Lüge einer Dekonstruktion (manchmal sogar einer dringenden) bedürfen, hängt mit eben dieser begrifflichen Bestimmung zusammen. Gibt es die Lüge an sich nicht? Kann man nicht mit der Absicht täuschen oder irreführen lügen? Kann ein Mensch nicht sich selbst täuschen oder irreführen und dabei lügen? Ist eine Lüge notwendig eine Aussage, die mit dem Anspruch auf Wahrheit gemacht wird? Wie sind also die verschiedenen Versuche, die Geschichte der Lüge zu schreiben – von Koyré über Arendt bis hin zu Derridas eigener Auseinandersetzung mit der Lüge – zu bewerten?
An dieser Stelle macht Derrida einen bemerkenswerten Schritt. In den Bemühungen um eine Geschichte der Lüge wird die Lüge entweder deshalb, weil sie nicht unmittelbar als Lüge begriffen werden kann, in einem bestimmten Kontext – vermittelt über Sprache, Medien oder andere Instrumente – praktisch erzählt, also in eine spezifische Situation eingebettet; oder aber es wird die Heiligkeit der Wahrheit betont, um eine Geschichte der Lüge zu entwerfen. Betrachtet man diese Bemühungen im Allgemeinen, so lässt sich feststellen, dass sie aus einer Perspektive sprechen, die die Lüge außerhalb der Geschichte stellt. Das zweite Verständnis ist leicht nachvollziehbar: Wenn die Lüge als Entweihung des Heiligen begriffen wird, so wird ihr Gegenteil – Wahrheit oder Wahrhaftigkeit – als ursprünglich angenommen. Doch das Ursprüngliche kann nicht historisch erzählt werden. Denn die Wahrheit, Authentizität, Priorität oder Essenz des Ursprünglichen lässt sich nicht darstellen, ohne dass man auf es selbst verweist.
Natürlich lässt sich, wie bei Kant, festhalten, dass das Lügen unter allen Umständen ein Mangel an Tugend und ein Verstoß gegen das Pflichtgefühl sei und deshalb unbedingt schlecht ist. Doch das kantische Unbedingte selbst ist außerhalb der Geschichte: „Die kantische Definition der Lüge und die Pflicht zur Wahrhaftigkeit sind so formal, so imperativ und so unbedingt, dass sie jegliches historisches Denken auszuschließen scheinen“ (oder, in einer Hinsicht, auf die Derrida nicht eingeht: zumindest in der Perspektive von Kants politischem Kosmopolitismus, der Geschichte im Schutzraum dieses Kosmopolitismus und seines Optimismus deutet, indem er erwartet, dass sich die Geschichte zum Guten hin entwickelt und eines Tages eine vollkommen kosmopolitische Weltordnung erreicht wird. In diesem Blick wird der Unbedingtheit ein universelles Ziel zugeschrieben, das in der Zukunft eingelöst werden soll).
Beiseitegelegt sei hier die zweite Perspektive, die Geschichte wie auch Wahrheit mit einer gewissen Heiligkeit oder Teleologie versieht und die uns weniger direkt betrifft; interessanter ist die erste. An dieser Stelle nimmt Derrida Hannah Arendts Schriften zur Lüge in der Politik als Beispiel. Kurz gesagt lautet seine Frage: Was geschieht mit der Lüge, wenn sie in der Praxis aufgelöst und historisiert wird – und zwar genau dann, wenn man den Begriff der Lüge nach ihrer praktischen Funktionsweise definiert? Wie fast in allen seinen Texten spaltet, verkompliziert und umkreist Derrida auch diese Frage; der Kern des Problems bleibt jedoch Arendts Verallgemeinerung über die Transformation des Lügens.
Arendt unterscheidet zwischen klassischem und modernem Lügen. Das moderne Lügen definiert sie durch zwei Eigenschaften: Erstens ist die Lüge mit der Moderne und besonders mit der modernen Politik untrennbar verbunden. Zweitens ist diese Verflechtung so umfassend, dass sie bis zur Selbsttäuschung reicht. Derridas Einwand gegen diese beiden Eigenschaften bezieht sich wiederum auf die Möglichkeit, eine Geschichte der Lüge zu schreiben: Wenn die Lüge in der Politik allgegenwärtig und weit verbreitet ist, was ist dann aus der Lüge geworden? Ist sie nicht, wenn auch keine Norm, so doch normalisiert? Und außerdem: Ist Selbsttäuschung überhaupt möglich?
Arendt hat darauf eine Antwort: Während die klassische Lüge wie ein Schleier über der Wahrheit liegt, verdrängt die moderne Lüge das Ursprüngliche (oder, mit Hans Blumenberg gesprochen, da die Moderne ihre Legitimität stets aus sich selbst heraus zu gewinnen sucht, weder nach einem Ursprung, einer Ursprünglichkeit noch nach einem Wesen fragt und auch kein Repräsentationsverhältnis trägt). Folgt man Derridas Arendt-Lektüre, so gilt: „Die moderne Lüge ist keine Begleitung der Wahrheit durch Verschleierung mehr; sie ist vielmehr die Zerstörung der Realität oder des ursprünglichen Archivs.“ Arendt formuliert es so: „Der Unterschied zwischen traditioneller und moderner Lüge besteht im Unterschied zwischen Verbergen und Zerstören.“
In der vormodernen Welt verdeckt die Lüge; in der modernen Welt hingegen zerstört sie – nicht nur die Wahrheit, sondern sogar das Faktische selbst, indem sie es so darstellt, als wäre es nie geschehen (wie wenn auf einem Foto eine unerwünschte Person durch technische Manipulation entfernt wird, sodass es scheint, als sei sie nie dort gewesen). Vereinfacht gesagt: Für Arendt lässt sich die moderne Lüge am besten nicht dadurch fassen, dass man erkennt, was verborgen wird, sondern dadurch, dass man versteht, wie sie Vergangenheit und Faktizität zerstört. In der Moderne gilt zwar weiterhin „zwei mal zwei ist vier“; aber Sätze wie „Deutschland fiel im August 1914 in Belgien ein“ – Tatsachen, die allgemein bekannt und nicht Gegenstand von Konsens oder Dissens sind – können von Anhängern so verzerrt werden, dass ein historisches Faktum, das den Weltkrieg auslöste, vernebelt und zerstört wird. Denn Arendt behauptet, dass in der Moderne Bilder nicht mehr auf irgendeine Ursprünglichkeit, ein Original oder ein früheres Archiv zurückgehen, also keinen Wahrheitswert tragen; sie seien, sozusagen, Kopien ihrer selbst.
Derrida wiederum meint, Arendt bleibe bei der Erfassung der Lüge auf halbem Wege stehen; sie folge der Logik ihrer eigenen Analyse nicht bis zum Ende. Um diesen Vorwurf zu verstehen, muss man auf die zweite Eigenschaft der modernen Lüge eingehen: die Selbsttäuschung.
Derrida argumentiert, dass das Sich-selbst-Belügen, das Arendt als Merkmal der modernen Lüge bezeichnet, eigentlich nicht unter den Begriff der Lüge fällt: „Sich selbst belügen ist weder im gewöhnlichen Sinn noch in dem von Sartre mit dem Begriff mauvaise foi (etwa ein psychologischer Zustand des unehrlichen Handelns) bezeichneten Sinn ‚Unlauterkeit‘ [bad faith]. Daher erfordert es einen anderen Namen, eine andere Logik, andere Begriffe; es verlangt, sowohl mediale techno-performativen Praktiken zu berücksichtigen als auch eine Phantasmatik oder Symptomatologie des Unbewussten, auf die Arendts Werk verweist, die sie jedoch nie wirklich ausgearbeitet hat.“
Das ist wieder ein meisterhafter Schachzug Derridas. Ohne Arendt zu widerlegen, erkennt er ihre Richtigkeit an, nimmt aber das Gesagte auf und verschiebt es in eine andere Dimension. (Nebenbei sei angemerkt: Dabei verfällt Derrida ironischerweise in einen Subjektzentrierung, gegen die er in seiner gesamten Lügenanalyse eigentlich ankämpft. Indem er die Lüge als mit dem Anspruch der Wahrheit Gesagtes definiert, isoliert er den Lügner, abstrahiert ihn zumindest seinem Gesetz und seiner Gesetzesstruktur nach. Auch wenn die Lüge ein an andere gerichtetes, als wahr behauptetes Wort ist, zieht Derrida den Lügner in sich zurück und betrachtet ihn in der Isolation. Dies wirkt sich wiederum auf seine Deutung von Arendt aus.)
Derridas Vorgehen, indem er behauptet, dass das, was Arendt als moderne Lüge bezeichnet, vielleicht gar keine Lüge sei, sondern unter einem anderen Namen und sogar mit einer anderen Logik betrachtet werden müsse, beruht – grob gesagt – darauf, dass er die Logik der sogenannten modernen Lüge im Grunde für nahezu identisch mit der Logik der Imagination hält, die etwa beim Verfassen eines literarischen Werkes in der Einbildungskraft hervorgebracht wird. Andererseits erleichtert es Derrida die Arbeit, dass Arendt die moderne Lüge als eine Geschichte der Selbsttäuschung historisiert und dies mit einem Politikverständnis erklärt, das in etwa besagt: „Unter völlig demokratischen Bedingungen ist es fast unmöglich, einen anderen zu täuschen, ohne sich selbst zu täuschen.“ Derrida hingegen ist der Ansicht, dass Selbsttäuschung unmöglich ist. Was Arendt für die Moderne spezifisch nennt und zusammenfasst mit den Worten: „Je erfolgreicher ein Lügner ist, desto wahrscheinlicher wird er Opfer seiner eigenen Erfindungen“, erscheint ihm sowohl in Bezug auf die angedeutete „Psychologie“ unklar als auch – wenn man die klassische Definition der Lüge berücksichtigt, nämlich dass die Lüge „immer darin besteht, dass man weiß, was man absichtlich verbirgt, und daher ohne sich selbst zu belügen den anderen absichtlich und bewusst täuscht“ – unter der Voraussetzung, dass das Gegenüber der Lüge als „Feind“ gedacht ist, – ausgeschlossen, dass das Selbst sich selbst belügt. Daher erfordert das, was es an Selbsttäuschung oder Selbstlüge geben mag, eine andere Erfahrung, einen anderen Namen oder eine andere Logik; denn es „stammt zweifellos aus einem anderen Bereich oder einer anderen Struktur“. Diesen Bereich oder diese Struktur erstreckt Derrida von der Intersubjektivität oder der Beziehung zum Anderen bis hin zum „Anderen im Inneren des Selbst“ und betont, dass auch dieser „innere Andere“ voraussetzt, dass wenigstens ein Teil des Selbst als Feind des Selbst bestimmt wird.
Kurz gesagt: Für ihn kann Selbsttäuschung nicht Lüge genannt werden; sie folgt einer anderen Logik und könnte allenfalls als Phantasma bezeichnet werden; manchmal auch als Ideologie; zumindest in der Psychoanalyse wird sie als Symptom bezeichnet. Weder die Psychoanalyse noch die heideggersche Daseinsanalytik, die nicht auf dem klassischen Prinzip des Ego oder Selbst (self) beruhen und die Derrida als methodische Kriterien des Erkennens versteht, sind in der Lage, die von Arendt so genannten Phänomene des Sich-selbst-Belügens oder Sich-selbst-Zuredens ernsthaft zu berücksichtigen. Täuschung oder Irreführung ist möglich, aber die Selbsttäuschung oder Selbstirreführung unter völlig demokratischen Bedingungen im Lichte einer Wahrheit, Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit zu beurteilen, die auch die Täuschung oder Irreführung des anderen ausschlösse – mag dies im Namen der Wahrheit oder im Namen einer optimistischen Teleologie der Geschichte oder der menschlichen Natur geschehen –, führt dazu, die Lüge zu sekundarisieren, zu trivialisieren und zu kontingentisieren.
Daher wird die Wahrheit – ob sie nun das Risiko birgt, die Lüge unter der Hypothese des radikalen Bösen und der ursprünglichen Verderbnis der jüdisch-christlich-kantischen Anthropologie zu betrachten oder nicht – in Politik und Gesellschaft als ein teleologisches regulatives Ideal angenommen. Wie bereits erwähnt, hält Derrida die Möglichkeit, die Lüge zu begrifflich zu fassen, für äußerst gering, und falls es dennoch gelingt, behauptet er, dass in dem Moment, in dem diese Begriffsbildung erfolgt, die Wahrheit oder das Gegenteil der Lüge entzeitlicht und die Lüge damit aus der Geschichte hinausgedrängt wird. (Nebenbei sei angemerkt, dass Derridas Ausführungen zur Selbsttäuschung auch mit einer anderen Logik als der seinen hinterfragt werden können. So untersucht etwa Vladimir Krstić in einer neueren Arbeit mit dem Titel Deception and Self-Deception Täuschung und Selbsttäuschung aus epistemologischer Perspektive und transformiert die Gültigkeit der Annahme: „Wenn Täuschung die Absicht zu täuschen voraussetzt, kannst du dich nicht selbst täuschen“, mit einer funktionalistischen Sichtweise. Seiner Ansicht nach ist die notwendige Bedingung jeder Täuschung, die Funktion eines täuschenden Verhaltens oder Merkmals irrezuführen. Mit anderen Worten: Man muss nicht auf das Wort, sondern auf die Funktion achten. In diesem Fall verfällt derjenige, der sich täuscht, nicht einfach einer kognitiven Inkongruenz im Denken, wie sie bei einem Argumentationskonflikt mit kognitiv ähnlichen, scheinbar neutralen anderen auftreten würde. Vielmehr ist der Betreffende einfach „nicht bei sich“. Daher können sich selbsttäuschende Personen in einem solchen Zustand „eine Inkongruenz, ein Unbehagen oder eine Verhaltensspannung“ zeigen. Doch diese Spannung ist kein Anzeichen eines begrifflich problematischen Unlogischen oder eines tief verborgenen Wissens der Wahrheit. Die Person ahnt lediglich, dass „etwas nicht stimmt“. Diese funktionale Erklärung der Selbsttäuschung scheint den von Derrida im Hinblick auf Phantasma, Ideologie oder Symptom geforderten anderen Bereich oder die andere Logik kaum zu verletzen. Ihre wichtigste Eigenschaft jedoch besteht darin zu zeigen, dass Selbsttäuschung möglich ist.)
Im Allgemeinen betrachtet können Derridas Überlegungen zur Lüge wie eine Bombe erscheinen, die mitten in die von Arendt entwickelte Beziehung zwischen Politik und Philosophie geworfen wird. Wenn wir die Sache aus einem anderen Blickwinkel angehen, den Derrida nicht ausdrücklich behandelt, und uns einer etwas freieren Lesart bemühen: Falls Arendt in ihren grundlegenden Hypothesen über das Verhältnis von Politik und Lüge beim Versuch, eine Geschichte der Lüge zu entwerfen, in Wirklichkeit die Geschichte der Wahrheit oder der Wahrhaftigkeit erzählt, und falls die Beziehung zwischen Politik – als dem dominierenden Ordnungsmechanismus der Moderne – und Lüge etwas ist, das ihrem Wesen nach zueinander gehört, dann wäre Wahrheit oder Wahrhaftigkeit bei Arendt im Grunde ein Mittel, die Lüge zu kontrollieren, also eine Lüge gegen die Lüge. Dies ergibt letztlich die typische Logik der Immunität: So wie dem Körper zur Abwehr eines Virus eine unschädliche Dosis desselben Virus injiziert wird.
Doch sollte man Derridas Urteile über Arendt nicht vorschnell treffen. Derrida – man muss es eingestehen – bewegt sich zwar nicht immer auf der Ebene prinzipieller Kritik, aber mit Kommentaren, die Zweifel aufwerfen, ob er die Sache im Detail wirklich erfasst. Typisch für die Haltung des öffentlichen Intellektuellen hat er die Logik der Immunität in Schriften, die stärker mit Politik verflochten sind, besonders nach dem 11. September, vielfach verwendet, um im westlichen Ordnungsgefüge Mechanismen der Diagnose und der Entlarvung aufzuzeigen. Dabei hat er argumentiert, dass der Westen in die Falle einer auto-immunitären Logik geraten sei, und ihr die Logik einer bedingungslosen Gastfreundschaft entgegengesetzt. Doch – um eine eigentlich gesondert zu behandelnde Frage hier nur kurz zu benennen – im Vergleich zu den genealogischen Lesarten des Begriffs communite bei Roberto Esposito oder Jean-Luc Nancy zeigt sich, dass Derridas „Lösung“ (wie auch Emile Benvenistes Wörterbuch zu indoeuropäischen Begriffen und gesellschaftsspezifischen Sprachfeldern nahelegt) letztlich eine zeitgenössische Aktualisierung einer indoeuropäischen Vorstellung von „Kommunität“ ist. Derrida empfiehlt, die im Begriff communitas inhärente „immunitas“ durch das im „com-“ enthaltene Zeichen des Miteinanders, also durch Gastfreundschaft, zu ergänzen.
Derrida beschreibt die Auto-Immunität fast wie einen Selbstmord: „die eigene Erhaltung durch die Zerstörung der eigenen Immunität zunichtemachen“. So stellt er etwa mit Fragen wie „Kann die Demokratie sich selbst demokratisch bewahren?“ die demokratische Qualität nicht-westlicher Demokratien infrage. Doch seiner Auffassung nach gilt es, anstelle einer zum Selbstmord neigenden Auto-Immunität auf eine Immunität hinzuarbeiten, die sich in Richtung einer bedingungslosen Gastfreundschaft öffnet. Dass Derrida die Überwindung des Eurozentrismus gerade als Verantwortung Europas selbst ansieht, ist derselben Logik geschuldet. Zwar bleibt die Frage, was an die Stelle des Eurozentrismus treten soll, letztlich der Unbestimmtheit einer Zukunft überlassen, und unter den geopolitischen Bedingungen bleibt am Ende nicht viel mehr übrig als die „Globalisierung“ – wobei Derrida, im Französischen, zwischen mondialisation („Weltwerdung“) und ökonomischer Globalisierung unterscheidet.
Hinter Derridas Verantwortungsbegriff steht also der Versuch, sich ohne Vorbehalt von einem Verständnis der „Kommunität“ als Immunität zu lösen, die stets nationalistisch, rassistisch, staatszentriert und in sich verschlossen gedacht wurde. Doch – liest man Derrida teilweise mit Jean-Luc Nancy – so gilt es festzuhalten, dass im Heideggerschen Daseins-Analytik das Dasein immer auch Mitsein ist: Es existiert nicht nur für sich, sondern immer auch mit anderen. Kurz gesagt: Während im Türkischen „cemiyet“ „die Versammelten, die zu einer Gesamtheit Gewordenen“ bezeichnet, impliziert „communite“ in den westlichen Sprachen trotz ihrer immunitären Dimension eine Verantwortung, Pflicht, Aufgabe – also einen Versuch, eine ontologische Gemeinsamkeit des Miteinanders im Politischen zu begründen. Gerade Denker aus der phänomenologischen Tradition – darunter auch Derrida – suchen in letzter Zeit nach einer Logik, die diese doppelte Bindung von Immunität und Gemeinschaft zu überwinden vermag.
So bleibt die Frage, ob Derrida Arendt nicht vielleicht zu sehr aus seiner eigenen Agenda heraus liest, eine ernsthafte Herausforderung. Der Weg, dies zu prüfen, liegt darin, genauer auf die politischen Implikationen von Derridas Überlegungen zur Geschichte der Lüge zu achten: Auch wenn er die Lüge – ihrem Wesen nach – als etwas beschreibt, das immer schon die Wahrheit impliziert und Wahrheit wie Lüge aus der Geschichte hinauszudrängen versucht, so ist doch entscheidend, ob er die Lüge letztlich (wie in der Literatur) als Phantasma, (wie in der marxistischen Theorie) als Ideologie oder (wie in der Psychoanalyse) als Symptom begreift – und welche politischen Folgen das jeweils hat.
In seiner Untersuchung zur Geschichte der Lüge greift Derrida auch Alexandre Koyrés Aufsatz „Die politische Funktion der modernen Lüge“ auf. Nach Derrida enthält dieser Aufsatz historische Elemente und spiegelt die „Epoche, in der er geschrieben wurde“, wider. Dazu gehört auch Koyrés Beziehung zwischen totalitären Systemen und der Lüge. Derrida merkt an, dass Koyrés Aussagen über die „Priorität der Lüge“ in totalitären Systemen heute noch verständlich sind:
„Koyré hatte zu seiner Zeit keinerlei Schwierigkeiten, in einem totalitären System – ob offiziell deklariert oder nicht – die ‚Priorität der Lüge‘ darzustellen; dieses System verlangt eher als andere die Annahme eines stabilen und metaphysisch gesicherten Gegensatzes zwischen Wahrheit und Lüge. Ob man es aus der Nähe oder Ferne betrachtet, wir können dies heute problemlos darstellen. Der Lügner ist definitionsgemäß jemand, der behauptet, die Wahrheit zu sagen (das ist ein Strukturgesetz ohne Geschichte), aber je mehr Lügen ein politischer Mechanismus verbreitet, desto mehr wird die Liebe zur Wahrheit zum Grundsatz seiner Rhetorik.“
Derrida weist jedoch auf ein Problem hin: Koyré erklärt die Wahrheit nicht, wie Derrida es tut, als fix und metaphysisch im totalitären Kontext. Vielmehr behauptet Koyré, dass totalitäre Regime Lügen auf der Grundlage von Nation, Rasse oder Klasse – also unter Bezug auf die eigenen „Communities“ – instrumentalisieren, um Propaganda zu betreiben und ihre „Communities“ wie geheime Gesellschaften erscheinen zu lassen. Koyré nutzt diese These, soweit möglich, auch zur Unterscheidung zwischen „totalitärer Anthropologie“ und „liberal-demokratischer Anthropologie“.
Derrida kann zwar in der Tat recht haben, wenn er argumentiert, dass die strukturelle Definition der Lüge die Annahme ihrer Wahrheit beinhaltet. Doch dass er Koyré nicht darauf aufmerksam macht, dass die Lüge strukturell in zwei verschiedene Anthropologien unterteilt werden kann, die nicht nur die Natur der Lüge, sondern auch den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit bestimmen, ist aus der Perspektive derridascher Dekonstruktion ein Versäumnis. Indem Derrida andeutet, dass Totalitarismus heute in minimaler Form überall vorkommen kann, verdunkelt er zugleich die spezifische politische Dimension der Lüge.
Arendt hingegen betrachtet die Politik in ihrer Eigenständigkeit. Für sie ist Politik strukturell auf Repräsentation angelegt, und die Rolle der Lüge – sei es Selbsttäuschung oder Täuschung anderer – wird in diesem Kontext sichtbar. Wichtig ist zudem, dass Arendt kein Bild des öffentlichen Intellektuellen zeichnet, das sich auf eine totalitäre vs. freie Welt-Polarität stützt und etwa als Fortsetzung amerikanischer Außenpolitik interpretiert werden könnte. Vielmehr versucht sie, sowohl die Besonderheiten der Philosophiegeschichte als auch die spezifische Natur der heutigen Politik zu erfassen.
Für Arendt liegen die Wurzeln des Totalitarismus nicht so weit außerhalb der Realität, dass neue Anthropologien erfunden werden müssten. Sie argumentiert, dass die Ursprünge des Totalitarismus – „(nicht nur auf Juden gerichteter) Antisemitismus, (nicht nur Eroberung gemeinter) Imperialismus, (nicht nur Diktatur gemeinter) Totalitarismus“ – in der politischen Geschichte des Westens selbst gefunden werden können, wenn man Archive, das Trennen von faktischem und nicht-faktischem Geschehen und eine politisch-historische Analyse heranzieht. Totalitarismus ist also nicht das Ergebnis geopolitischer Vorannahmen oder monopolistischer Wahrheitsansprüche, sondern liegt in den Strukturen, die den Westen zumindest in der Moderne geformt haben.
Diese Differenzierungen sind entscheidende Orientierungspunkte, um die post-truth-Mechanismen in der US-amerikanischen Politik zu analysieren oder zu prüfen, wo das Phänomen in der Türkei untersucht werden könnte. Es geht dabei nicht darum, allein der amerikanischen Außenpolitik nachzugehen und auf dieser Basis öffentliche Intellektualität zu betreiben.
Vor diesem Hintergrund können wir – im nächsten Text – direkt zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit Arendts Thesen übergehen.