Die Angst vor Andalusien, der Traum von den Seldschuken
Erstveröffentlichung: haber10.com – 2014
„Ein Land, in dem das Denken von jeder Angst befreit ist,
ein Land, in dem die Menschen aufrecht stehen,
die Welt nicht durch Mauern geteilt ist,
Worte aus den Tiefen des Herzens hervorbrechen,
Arbeit ihre Arme nach Vollendung ausstreckt,
der Fluss des Verstandes nicht in der dunklen Wüste der Gewohnheiten versiegt ist –
ach, mein Gott!
Wäre mein Heimatland doch solch ein Land!“
Tagore
Im Jahr 1911 besetzen die Italiener Tripolitanien. Das Osmanische Reich hatte mit der Verfassungserneuerung der Zweiten Meşrutiyet einen bedeutenden Schritt nach vorne gemacht, doch England fürchtete, dass dieser konstitutionelle Wandel und das Motto „Einheit-Freiheit-Gerechtigkeit“ ein „schlechtes Beispiel“ für die Völker in Ägypten und Indien darstellen könnten. Russland hingegen wollte keinesfalls, dass sich das Osmanische Reich – insbesondere auf dem Balkan – wieder konsolidiert. Deshalb griffen beide Mächte zu allen Mitteln, um diese Revolution zu ersticken. Den unerfahrenen Kadern des Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) wurden verschiedenste ethnische, religiöse, wirtschaftliche und politische Probleme entgegengestellt. Der Staat war nicht in der Lage, Italien Einhalt zu gebieten. Die alten Generäle hatten Nordafrika längst aufgegeben – mit der Haltung: „Gib es her, und sei es los!“
Inmitten dieser Lage findet im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş, im Haus von Enver Bey, eine geheime Versammlung statt. Die jungen Offiziere, die später die letzte Verteidigungslinie des Reiches führen werden, kommen darin überein, dass man dem italienischen Angriff Widerstand leisten müsse. Enver, Talat, Mustafa Kemal, Ali Fuat, Rauf, Ömer Naci, Ömer Fevzi, Kuşçubaşı Eşref… Viele weitere werden sich heimlich nach Tripolitanien begeben, um dort lokale Kräfte zu organisieren und den Widerstand zu entfachen. Der Plan wird dem Osmanischen Generalstab übermittelt; die jungen Offiziere werden als Deserteure dargestellt, um die offizielle Haltung des Reiches nicht zu kompromittieren. So wird der Staat die Großmächte nicht weiter provozieren und den Widerstand im Verborgenen unterstützen können. Die Vorbereitungen werden abgeschlossen und eine kleine Gruppe idealistischer junger Männer macht sich, in Verkleidung und auf unterschiedlichen Routen, auf den Weg nach Tripolitanien. Mustafa Kemal reist unter dem Decknamen „Mustafa Şerif“, als Reporter der Zeitung Tanin. Aus Ägypten schreibt er seinem Jugendfreund Salih Bozok einen Brief:
„Wertvoller Bruder… Du weißt, seit die Tripolitanien-Frage aufkam, hat man nie davon abgesehen, dorthin zu reisen. Einmal blieben wir drei Tage auf einem Schiff nach Damaskus, wurden dann aber zurückgeholt. Danach versuchten wir es über Tunis oder Ägypten…
Diesmal brachen wir – ich, Ömer Naci und zwei weitere Kameraden – von Istanbul aus über Ägypten auf. Auch der Kriegsminister begleitete uns, wenn auch widerwillig. Wenn ich es für nötig und nützlich halte, werde ich einige weitere Freunde anfordern. Momentan müssen einige Punkte gesichert werden. Bitte verbreite nicht, wo ich mich befinde. Sag es nicht einmal meiner Mutter – noch eine Weile lang. Schick ab und zu einen Brief von mir aus Istanbul…
Wie geht es den Freunden? Um das Vaterland zu retten, sind mehr denn je Anstrengung und Opferbereitschaft erforderlich. Lies die letzten Seiten der andalusischen Geschichte… Leb wohl.“
Şerif (Mustafa Kemal), Alexandria, 4. Oktober 1911
Die letzten Zeilen des Briefes fassen den Grund für das beharrliche Streben dieser jungen Offiziere, nach Tripolitanien zu gehen, sehr gut zusammen. Genauer gesagt spiegeln sie das psychologische Klima wider, in das das Osmanische Reich nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877–78 (dem sogenannten 93er Krieg) geraten war:
„Möge unser Ende nicht so sein wie das von Andalusien…!“
Wie bekannt ist, wurde Spanien von 711 bis 1492 – ganze 781 Jahre lang – von muslimischer Herrschaft geprägt. Nach der Rückeroberung (Reconquista) wurden die Muslime durch Massaker und Vertreibung systematisch ausgelöscht. Bis zum Jahr 1614 waren nahezu alle Muslime aus Spanien vertrieben worden. Dieser blutige, religiös motivierte Hass hatte sich tief in das kollektive Gedächtnis der muslimischen Welt eingebrannt – als Gipfelpunkt der europäischen Barbarei, die mit den Kreuzzügen ihr Ziel nicht erreicht hatte.
Sowohl Sultan Abdülhamid II. als auch die gegen ihn kämpfenden Jungtürken (İttihatçılar) beschrieben dieses „Wir-gehen-zugrunde“-Gefühl mit der Angst „Wir werden wie Andalusien!“ – und versuchten mit aller Kraft, diese Katastrophe zu verhindern. Die territorialen Verluste auf dem Balkan wurden noch als eine Art notwendige Verkleinerung hingenommen. Doch mit der Eskalation der armenischen Ereignisse und dem Übergriff auf die Osmanische Bank bis hinein in die Hauptstadt, wurde klar: Die Gefahr besteht nicht mehr nur in Niederlage oder Verkleinerung – sondern in vollständiger Vernichtung, in der endgültigen Auslöschung der Muslime aus Anatolien.
Nach dem 93er Krieg wurden zahlreiche Bücher über Andalusien veröffentlicht. Auch Ibn Khalduns Muqaddima, die das Aufblühen und Vergehen von Staaten als organische Wesen beschreibt, wurde viel gelesen. Die letzten weisen Männer des Osmanischen Reiches wuchsen mit dieser Angst vor dem unausweichlichen Ende auf – und sie begannen mit all ihrer Kraft, sich diesem Schicksal zu widersetzen.
Der Wunsch, in den Ersten Weltkrieg einzutreten, der Kanal-Feldzug nach Ägypten während des Krieges, sowie die späteren Deportationsmaßnahmen Cemal Paschas gegen Juden, Christen und nationalistische Araber in Syrien, Libanon und Jerusalem – all das war Ausdruck eines verborgenen Kalküls:
„Falls wir Anatolien verlieren, machen wir diese Regionen zu unserer neuen Heimat.“
Auch Enver Paschas Flucht nach Berlin, sein späterer Versuch, in Transkaukasien und anschließend in Turkestan eine neue Bewegung zu starten, entsprang dieser Denkweise.
Das Ziel: Für die Muslime in Turkestan einen letzten Zufluchtsort schaffen, ein freies Heimatland.
Die Überzeugung, dass die Armenier zu den Verbündeten des Westens in der Region werden würden und die muslimischen Elemente nach und nach vertrieben und ausgelöscht werden sollten, ebnete den Weg zu einer „Gegensäuberung“ – zuerst durch Deportation, später durch den Bevölkerungsaustausch.
Die Angst vor Andalusien hat sich auch in die Grundlinien der republikanischen Politik eingeschrieben.
Die Delegation, die in Lausanne am Verhandlungstisch als Vertreter der Muslime saß, ließ die Kurden – im religiösen Sinne als Muslime – ebenfalls als Türken anerkennen und strebte an, durch den Bevölkerungsaustausch die Zahl der Nichtmuslime auf ein unbedenkliches Maß zu reduzieren. Die kemalistischen Kader, die sich der neuen Balance zwischen England und Russland anpassten, beseitigten auf Wunsch Englands sowohl die İttihatçı (Jungtürken) als auch die Kommunisten und führten mit den Repressionen von 1925, 1929 und 1937 Maßnahmen durch, um mögliche regionale Interventionen Russlands und Frankreichs zu verhindern.
Denn das bolschewistische Russland hatte unter Stalin Zentralasien und den Kaukasus unter Kontrolle gebracht und verfolgte, in Zusammenarbeit mit dem Iran, die Vision, über die Kurden im Nahen Osten Fuß zu fassen. (Tatsächlich wurde während des Zweiten Weltkriegs mit sowjetischer Unterstützung in Iran die Mahabad-Kurdische Republik gegründet, jedoch schon nach kurzer Zeit blutig aufgelöst – als der iranische Schah sich mit einem Flirt Richtung Großbritannien absicherte. Barzani verfolgt bis heute den Traum seines Vaters.)
Frankreich hingegen war aus dem Nahost-Projekt, das es sich mit Großbritannien im Sykes-Picot-Abkommen während des Ersten Weltkriegs geteilt hatte, nahezu leer ausgegangen. Die Briten hatten sich mit zahlreichen Tricks den französischen Anteil am Irak angeeignet und Frankreich stattdessen die problematischen Regionen wie Syrien und Libanon überlassen. Deshalb stand Frankreich über lange Zeit hinter vielen Entwicklungen, die den kemalistischen Kadern, die mit England zusammenarbeiteten, Kopfzerbrechen bereiteten. Eine bedeutende Rolle spielten dabei Frankreichs traditionelle Armenien-Politik, der beharrliche Druck der Armenier in Syrien und Libanon sowie die Rolle des Krypto-Armeniertums in Anatolien.
Die harte Reaktion der kemalistischen Regierung auf die Aufstände in Ağrı und Dersim sowie ihre rigorosen Deportationsmaßnahmen basierten auf tief verwurzelten Ängsten – bis zurück zur „Andalusien-Furcht“ – und auf der aktualisierten Sorge, dass Frankreich in der Region einen armenischen oder kurdischen Staat errichten wolle. Als sich der Zweite Weltkrieg näherte, standen sich in der geopolitischen Konstellation zwei Lager gegenüber: auf der einen Seite Frankreich, Russland, Syrien und Iran, auf der anderen Seite Großbritannien, die Türkei, der Irak und Afghanistan. Die Annexion Hatays war die Antwort auf den kurz zuvor ausgebrochenen Dersim-Aufstand – beide Ereignisse lassen sich anhand der politischen Ausrichtungen der genannten Länder deutlich einordnen.
Ohne Berücksichtigung dieser außenpolitischen Gleichungen ist die Politik der Republik nicht zu verstehen – insbesondere nicht das scheinbar religionsfeindliche Auftreten nach außen, das im Inneren und auf lange Sicht sogar zu einer Förderung strengster sunnitischer Glaubensauslegungen führte, um eine fromme Bevölkerung zu schaffen.
Ebenso ist die Haltung jener Kader erklärbar, die Anfang der 1920er Jahre noch so klar wussten, dass es in Anatolien viele Kurden gab, dass sie sogar über Autonomie sprachen – und die ab 1925 mit Hartnäckigkeit und Zähigkeit versuchten, die kurdische Identität im Sinne des in Lausanne als einziger verbindender rechtlicher Rahmen anerkannten Begriffs Türke = Muslim aufzulösen.
Das Bestreben, die Kurden in den Lausanne-Verhandlungen den Westmächten gegenüber als Türken (im Sinne von Muslimen) darzustellen, verfolgte zwei Ziele:
Einerseits sollte ganz Anatolien als muslimisches Gebiet definiert werden, um jede Möglichkeit eines westlichen Vorstoßes zur Errichtung eines christlichen Staates (für verbliebene Christen) im Keim zu ersticken. Andererseits – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass einige kurdische Stämme im Ersten Weltkrieg von Iran, Russland und Großbritannien instrumentalisiert worden waren – sollte die kurdische Bevölkerung in der Pufferzone zum Iran langfristig in die anatolische Einheit integriert werden.
Denn es ging nicht um Ethnie, Religion oder Konfession – es ging um Existenz und Überleben.
Daher muss man unterscheiden zwischen dem, was die republikanische Politik zu erreichen versuchte, und den Mitteln, mit denen dies geschah.
Die Angst „Möge unser Ende nicht wie das von Andalusien sein“ war – unter Berücksichtigung der damaligen Umstände und mit einem Rückblick von hundert Jahren – aus Sicht jener Generation ein verständlicher und nachvollziehbarer Überlebensimpuls.
Doch, salopp gesagt, wurde versucht, eine Augenoperation mit einer Axt durchzuführen.
Die Angst vor Andalusien wirkte auch nach dem Zweiten Weltkrieg als instinktive Reaktion weiter und beeinflusste das tief verankerte Unterbewusstsein des Staates.
Die Varlık-Vergisi (Vermögenssteuer), die Pogrome vom 6.–7. September und die offene wie verdeckte Säuberung der griechischen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Zypernfrage können als Fortsetzung dieser Politik verstanden werden. Auch im „Kampf gegen den Kommunismus“ vor 1980 und im Kampf gegen die PKK nach 1980 bestimmten diese Ängste weiterhin die staatlichen Reflexe.
Sogar die unter der Bevölkerung kursierende Vorstellung, dass die PKK eine Organisation der Krypto-Armenier sei und ihr eigentliches Ziel nicht Kurdistan, sondern die Rache für 1915 sei – etwa die Berichterstattung über „unbeschnittene Terroristen“ – stellt weniger eine böswillige Propagandalüge als vielmehr eine periodisch wiederholte Einschätzung dar. Die Tatsache, dass die PKK ihren bewaffneten Kampf mit Angriffen auf kurdische Dörfer begann, während der Rebellion viele Kurden – auch aus den eigenen Reihen – gnadenlos tötete, sich bemüht, die Kurden aus ihrer osmanisch-muslimischen Identität zu lösen und als einzige legitime Stimme „der Kurden“ aufzutreten, nährt genau diesen Verdacht.
Ein aufschlussreiches Beispiel für den „osmanischen Staatsverstand“ in Bezug auf religiöse, ethnische und konfessionelle Gruppen Anatoliens sind die Studien von Baha Said Bey, der 1910 im Auftrag des Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) ein Inventar der religiösen Gruppen Anatoliens erstellen sollte. Auch nach der Republikgründung setzte Baha Said Bey seine Feldforschung zu Themen wie Alevitentum, Bektaschitum, Nusairitum und Ahilik fort. In seinem später veröffentlichten Werk „Alevi-Bektaşi, Ahi ve Nusayri Zümreleri in der Türkei“ (Kitabevi, Istanbul 2000) schreibt er:
„Es gibt Bevölkerungsgruppen in der Republik Türkei, die von christlichen Gruppen als ihre eigenen Konvertiten geführt werden, ohne dass dies als problematisch betrachtet wird.
So wurden etwa die Kargın-, Avşar-, Tahtacı- und Çepni-Aleviten – trotz ihrer zahlenmäßigen Dichte – allgemein als türkisierte Gruppen der orthodoxen Griechen betrachtet.
Die Aleviten in Dersim, Kiğı, Tercan, Bayburt, Iğdır usw. wurden ebenfalls als Anhängsel in den armenischen Bevölkerungsregistern aufgeführt.
Besonders protestantische Missionsstatistiken veröffentlichten solche Angaben nach dem Waffenstillstand.
Dass christliche Minderheiten diese alevitischen Gruppen als „halbe Christen“ darstellten und so die europäische Öffentlichkeit beeinflussten, ist ein aufschlussreicher Vorgang, der unbedingt untersucht werden muss – ein Vorgang, der durch die geheimen Pontus-Dokumente des amerikanischen Colleges in Merzifon ebenfalls belegt wurde.“*
Ein weiteres Beispiel, das den europäischen Blick widerspiegelt, sind die Memoiren des tief katholischen venezolanischen Freiwilligen Rafael de Nogales Méndez, der sich dem Ersten Weltkrieg auf Seiten Deutschlands anschloss. In seinem Buch „Vier Jahre unter dem Halbmond“ (dt. Ausgabe: Yaba Yay., Istanbul 2008) beschreibt er seine Kriegserfahrungen, beginnend an der Ostfront in osmanischer Uniform und im Rang eines Obersts – auf Wunsch der Deutschen. Er kämpft in Mosul, Bagdad, Palästina, der Sinai-Front sowie in Ostanatolien gegen russische und armenische Banden, wobei er Zeuge der Massaker an den Armeniern in Van, Bitlis, Muş und Diyarbakır wird.
In der englischen, deutschen und französischen Ausgabe seines 1921 veröffentlichten Buches gibt Nogales zwar den armenischen Eliten eine Mitschuld an den Massakern, schildert jedoch die Ereignisse detailliert aus erster Hand und liefert damit wertvolle Einblicke für die europäische Öffentlichkeit. Er macht nicht die Türken oder das türkische Militär verantwortlich, sondern weist einzelnen Gouverneuren, Offizieren sowie lokalen kurdischen und tscherkessischen Stämmen die Schuld zu.
Nogales vertritt die Meinung, dass die Armenier ihre Chance verspielt hätten, ein treuer Verbündeter des Westens in der Region zu sein, indem sie sich von den Russen zum Aufstand verleiten ließen – und damit ihr eigenes Ende herbeigeführt hätten. Über die Kurden schreibt er:
„Ich fand die Kurden – oder Karduchos – so vor, wie sie in Xenophons Anabasis beschrieben sind… Meiner Meinung nach sind die Kurden das Volk der Zukunft im Nahen Osten. Sie sind nicht durch die Übel älterer Zivilisationen verdorben. Sie sind ein junges und mutiges Volk.“
(a.a.O., S. 51)
Diese und ähnliche Äußerungen lassen die Vermutung aufkommen, dass die Kurden für den Westen zu einem potenziellen neuen Verbündeten in der Region werden könnten – allerdings erst, nachdem sie ihre „Schuld“ beglichen hätten.
Solche Gedankengänge trugen dazu bei, dass der türkische Staat allen abweichenden Identitäten und Forderungen stets mit Misstrauen begegnete – und Gleichmachung oder Auslöschung als einfache und endgültige Lösung betrachtete.
Die Angst vor al-Andalus hat auch die islamische Politik des Staates geprägt. Die Schließung der Tekken und Derwischorden in den frühen Jahren der Republik war eine Fortsetzung der Säuberung der Unionisten, da diese dort organisiert waren. Nach dem Scheich-Said-Aufstand war zudem die Sorge groß, dass der Iran, Russland, Syrien und Frankreich die Kurden über religiöse Orden manipulieren könnten. Der Gebetsruf auf Türkisch in den 1930er Jahren war ein Versuch, der damaligen Mode des europäischen Faschismus zu folgen. Die wirklich weit verbreiteten Orden und religiösen Gemeinschaften jedoch wurden stets inoffiziell geschützt und am Leben erhalten, unter Kontrolle gehalten und zeitweise als Instrumente der Innen- und Außenpolitik genutzt.
Auch die antikommunistische Politik nach dem Kalten Krieg ist im Grunde eine Art gesellschaftliches Engineering, das unter dem Deckmantel des antikommunistischen Kampfes betrieben wird. Der Staat hat, genauso wie er in der Heimat die Existenz einer „Ding“ namens Kurde zwar anerkennt, aber keine andere Identität außer der türkischen akzeptiert, obwohl es niemals Kommunismus gab – und schon gar keine kommunistische Gefahr durch eine russische Besatzung –, dennoch große Massen unter einem sunnitisch-konservativen Dach mobilisiert. Denn auch hier geht es nicht um Kommunismus, sondern wie so oft um Existenz und Fortbestand.
Der kritischste Prüfstein der Religionspolitik des Staates ist nicht, wie oft angenommen, die eigentümliche Laizitätspraxis – (die Laizitätsklausel wurde nach der Niederschlagung von Dersim erfunden, um die Aleviten an den Staat zu binden, und hat darüber hinaus keine weitere Bedeutung) – oder die Politik gegenüber großen politischen-sozialen Bewegungen wie dem Selametçi- oder Nurculuk-Milieu. Diese sind Ereignisse, die im Kontext tagespolitischer Entwicklungen bewertet werden können. Der eigentliche Fokus liegt im Bildungsbereich, insbesondere bei den Korankursen.
Laut den Erinnerungen von Ali İhsan Sabis Pascha an den Ersten Weltkrieg präsentierte 1916 ein Delegierter auf dem Kongress der Jungtürken einen Bericht zum Thema Religion. Dem Bericht zufolge ergab eine Untersuchung unter osmanischen Soldaten, dass viele von ihnen Fragen wie „Wer ist dein Herr?, Wer ist dein Prophet?, Welcher Rechtsschule gehörst du an?, Wie viele Säulen des Islam gibt es?, Was sind die 32 Pflichten?“ nicht beantworten konnten. Es wurde festgestellt, dass es ein ernsthaftes Problem darstellt, dass diese einfachen Volkskinder, die zum Dschihad an die Front geschickt wurden, ihre Religion nicht kennen. Nach diesen Diskussionen wurde beschlossen, eine Institution zu gründen, die die Vorläuferin der heutigen Präsidentschaft für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) werden sollte. Nach der Ausrufung der Republik wurde das Ministerium für Scharia und Stiftungen aufgelöst und stattdessen die Diyanet İşleri Başkanlığı gegründet – wie viele andere „Revolutionen“ ist dies eigentlich eine Fortführung von Programmen und Entscheidungen der konstitutionellen Phase und der Jungtürken.
Es ist bekannt, dass in den frühen Jahren der Republik offiziell alles Religiöse in den Hintergrund gedrängt wurde und die Diyanet nur in einem begrenzten Rahmen und mit dem Ziel arbeiten durfte, die Ideologie der Republik zu unterstützen. Diese Situation führte jedoch dazu, dass die Bevölkerung eigene Lösungen entwickeln musste. In Häusern, Nachbarschaftsmoscheen und vielen anderen vertrauenswürdigen Orten wurde der Unterricht des Korans und grundlegende religiöse Bildung für Kinder zu einem großen Kampf. Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine religiöse Bildung, die es in dieser Form während der osmanischen Zeit nicht gab: Fast die gesamte Bevölkerung deckte ihren Bedarf an grundlegender islamischer Bildung durch zivile Kanäle und Eigeninitiative.
Das wichtigste Merkmal dieses Bemühens ist die Tatsache, dass die Einheit und der Zusammenhalt der osmanischen Bevölkerung nicht durch eine künstliche und säkulare türkische Identität gewährleistet wurde, die die künftigen Eliten der Republik als Täuschung gegenüber dem Westen erfanden und aufzwingen wollten, sondern durch eine osmanische Identität, die mit dem islamischen Glauben, dem Rückgrat der seldschukisch-osmanischen Tradition, identisch ist. Mit anderen Worten: Dass die Nation nach dem großen Zusammenbruch weiterhin als eine einzige Nation besteht, liegt nicht – wie die Eliten der Republik annahmen – an der kosmopolitisch-säkularen offiziellen türkischen Identität, die einen westlich-tanzimatistischen Lebensstil ausdrückt, sondern wurde trotz dieser und in Trotz, mit Würde und Widerstand erreicht. Der einzige Grund, warum rassistische, sektiererische Zwistigkeiten oder positivistische ideologische Fanatismen auf diesem Land marginal bleiben, ist die Vernunft und Einsicht der Mehrheit der Nation, die diesen falschen Identitäten widersteht und sich an den einfachsten, grundlegendsten, aber zugleich stärksten religiösen und kulturellen Bindungen an den Islam klammert – dem eigentlichen nationalen Identitätsgaranten, der diese Erde seit tausend Jahren prägt. Alle übrigen heterodoxen, marginalen, esoterischen und vorübergehenden Strömungen verdanken ihre Sicherheit letztlich dieser starken Kultur der Mehrheit der Nation. Denn ein nicht fanatisches Verständnis des Islam schließt sowohl Meinungsfreiheit als auch Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen und Richtungen ein. Dass der einfache islamische Glauben mit der Zeit auch zum Kern der religiösen Politik der Republik wurde, liegt an der beharrlichen Treue der Mehrheitsbevölkerung zu diesem Weg. Die Essenz dieses Glaubens ist, die Bedingungen des Islam und des Glaubens zu kennen und die großen Sünden (kebair) zu meiden. Dieser Glaube, der im Alltag der Nation, in den feinen Lebensdetails und der Weltsicht als gemeinsamer kultureller Code fungiert, ist weit mehr als eine bloße Glaubensform; er erfüllt die Funktion einer Weltsicht und eines geistigen Klimas. In diesem Sinne ist es eine hoffnungsvolle Dynamik für die Zukunft, dass die kollektive Existenz und die gemeinsamen Verhaltensmuster aller gesellschaftlichen Gruppen – Türk:innen, Kurden, Araber:innen, Aleviten, Sunniten, Balkan:innen, Kaukasier:innen usw. – ihre Unterschiede überragen und dominieren.
Seit Beginn der Republik sorgt gerade diese einfache „Impfung“, die insbesondere durch Korankurse und ähnliche Unterrichtsformen an Kinder weitergegeben wird, dafür, dass die Nation von Edirne bis Kars, von Diyarbakır bis Trabzon, von Antalya bis Erzurum mit denselben Reflexen, Denk- und Wahrnehmungsstrukturen existiert. Die neue Identität, die durch die offizielle Ideologie geschaffen wurde, wurde von der Mehrheit der Nation als Verleugnung der historischen, sozialen, politischen und idealen Mission dieser gemeinsamen kulturellen Codes und als ein Weg verstanden, die geistige Wurzel der Nation auszureißen und dem Westen zu opfern. Die wahren Bewohner Anatoliens wurden als bedauernswerte und hilflose Masse behandelt, die gezwungen werden sollte, dieses nachträglich erdachte falsche Kleid anzuziehen. Dass die Mehrheit der Nation trotz dieses vielseitigen Zwangs immer noch in denselben Vierteln und Häusern lebt, in denselben Moscheen betet, ist der Beharrlichkeit zu verdanken, mit der dieser grundlegende Glauben seit über hundert Jahren in zehntausenden Moscheen, Korankursen und Haushalten an die neuen Generationen weitergegeben wird. Der islamische Glauben ist die einzige Quelle dafür, dass dieses Land Heimat wurde, dieser Staat Bestand hat und die Nation ein gemeinsames Gedächtnis, Ideal und eine Identität erlangt hat. Wenn auf diesen Landen dauerhafter Frieden, sozialer Zusammenhalt und Sicherheit hergestellt, Lebensweisen aller Glaubens- und Ideologiegruppen gesichert und der Staat die Rolle eines Schiedsrichters dieser gemeinsamen Empfindlichkeiten übernehmen soll, dann führt kein Weg daran vorbei, dass sich die Existenz- und Fortbestehungsdynamik, die vom Glauben der Mehrheitsbevölkerung bestimmt wird, vertieft und fortgesetzt wird. Genau mit diesem Ziel hat der konservativ-religiöse Kern der Nation fortbestehen können.
Letztendlich hat der Staat als offizielle Institution versucht, die Existenz- und Fortbestehungsfrage mit totalitären und autoritären Politiken, die aus der Angst vor al-Andalus resultieren, zu lösen, während die Nation dieses Problem faktisch und meist trotz des Staates durch das Osmanisch-islamische Identitäts- und Wertegerüst bewältigt hat.
Trotz aller gegenteiligen Bemühungen gab es für die gesellschaftliche Mehrheit keine Probleme mit diesen Werten. Der „Klebstoff“, der Alewiten und Sunniten, Turkmenen und Kurden, Bosnier und Araber, Tscherkessen und Albaner zusammenhält, ist nichts anderes als diese Werte. Ethnische oder konfessionelle Differenzen oder Forderungen treten dort auf, wo diese Werte missachtet, aufgegeben oder ausgehöhlt werden. Jeden Menschen als wertvoll zu achten, jede Verschiedenheit als ein Zeichen Gottes zu sehen, alle als Brüder Adams, Gefährten Ibrahims, Musa und Isa sowie Glaubensgenossen Muhammads zu begreifen, sich moralisch an „Hand, Fuß und Zunge“ zu kontrollieren, die Unterdrücker als Unterdrücker und die Unterdrückten als Unterdrückte zu erkennen, Fürsorge für Waisen und Arme als Gottesdienst zu verstehen, Sklaverei als Würdeverletzung abzulehnen, jede Form von Diskriminierung als Zwietracht, jeglichen Druck und Terror als Verderbnis zu betrachten, dem Staat Gerechtigkeit, der Nation Zusammenhalt und dem Vaterland Ehre entgegenzubringen – dieses Verständnis ist ein gemeinsamer Schutzwall, der so empfindlich ist, dass sein Verlust Zersetzung, Widerspruch und Konflikt hervorrufen würde.
Deshalb ist der Aufbau der gesellschaftlichen Zukunft nur möglich, wenn Türken, Kurden, Alewiten, Sunniten u.a. wieder in dieses gemeinsame Verständnis zurückfinden und es zum Fundament des gesellschaftlichen Vertrags, der Verfassung und des Staates machen.
Die Angst vor Andalusien sollte nicht mehr Thema sein – nicht, weil die Ursachen und Bedingungen dieser Angst verschwunden sind, sondern weil man sich dieser Angst stellen und sie überwinden muss. Die Türkei kann ihre Zukunft nicht von ihren Ängsten bestimmen lassen. Ja, das Trauma des Ersten Weltkriegs scheint im 20. Jahrhundert mit übertriebenen sicherheitspolitischen Maßnahmen auf Basis dieser Angst überwunden worden zu sein. Doch die Idee, eine neue Nation zu schaffen – und dies mit Repression und Ausgrenzung umzusetzen – führte zu neuen Problemen und stellte die Türkei vor materielle und immaterielle Herausforderungen.
Jetzt, mit dieser Erfahrung im Blick, ist es sinnvoller und konstruktiver, wieder auf die geistige Wurzel der Nation zu schauen, die einfachen, schlichten, aber starken Werte neu zu entdecken und sie zu gemeinsamen Identitätsbestandteilen zu machen. Was immer das Ziel beim Schaffen einer neuen Nation innerhalb eines Nationalstaates ist – dieses Ziel sollte im Fokus stehen und insbesondere die Methoden sollten überdacht werden, um die Einheit und Ordnung von Staat und Nation zu festigen. Entscheidungen über das Dasein und das Fortbestehen der Türkei dürfen nicht mehr als unanfechtbare Gesetze von oben herab verkündet werden, da dies unangenehm ist und kontraproduktiv wirkt.
Dazu gehört auch, dass man aufhört, bestimmte Begriffe und Tatsachen als unveränderliche, unantastbare göttliche Gesetze oder Fetische zu behandeln. Mit einer Staats- und Amtssprache, die die Gesellschaft wie Kinder behandelt und ständig tadelt, können weder Unabhängigkeit, noch Einheit von Staat und Nation, noch eine freie und gemeinsame Zukunft realisiert werden. Das Wachstum dieses Landes ist zuerst ein sozio-psychologisches Wachstum – das Erwachsenwerden. Eine erwachsene Gesellschaft bedeutet eine soziale Durchschnittlichkeit, die aus Persönlichkeiten besteht, die Herr ihrer eigenen Schicksale sind, Zugehörigkeit und Würde besitzen. Die Zeit, ein Land mit Befehlen, Verboten, Tadel, Strafen und Belohnungen zu regieren, ist vorbei.
Wir müssen alle gesellschaftlichen Mittel nutzen, um jeden Einzelnen von uns, besonders unsere Kinder, zu mündigen Persönlichkeiten zu erziehen – solche, die mehr sprechen, diskutieren, widersprechen, Entscheidungen treffen, wählen, ablehnen können und Vertrauen zu sich selbst, ihrer Nation und ihrem Land haben, also Verantwortung tragen. Eine verlässliche und hoffnungsvolle Zukunft für uns alle kann nur mit gegenseitigem Vertrauen und Hoffnung entstehen. Ideologien, Gedanken, Wege und Methoden sollten dabei als Details gesehen werden, die demokratisch festgelegt werden können.
Ohne ein gesellschaftliches Klima des Vertrauens wird jeder ideelle oder methodische Schritt andere irritieren, zu einem großen gesellschaftlichen Problem werden und Angst und Sorge erzeugen. Deshalb ist es unerlässlich, dass jeder Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Barmherzigkeit als Grundprinzipien teilt.
Die Türkei steht heute an einer kritischen Schwelle. An dieser Schwelle wird vielleicht ein Prozess stattfinden, den man als erneutes „Nationwerden“ bezeichnen kann. Dies wird aber nicht durch von oben verordnete Identitätsdeklarationen oder von außen eingespritzte merkwürdige Vielidentitäten-Nachahmungen möglich sein, sondern durch die Rückkehr zum Ursprünglichen, Normalen und Natürlichen. Die Türkei braucht heute mehr denn je Normalisierung. Staat muss Staat sein, Justiz Justiz, Politik Politik, Wirtschaft Wirtschaft.
Alle Diskussionen über Türkentum, Kurdtum, Alewitentum, Laizität usw. müssen in einem Raum geführt werden können, in dem bis zum Ende diskutiert und die ganze Natürlichkeit gezeigt werden darf. Es muss jeder daran glauben, dass Verbote spalten, Freiheit aber verbindet. Niemand kann sich als Besitzer, Herrscher oder oberste Entscheidungsinstanz dieses Staates, dieses Vaterlands oder dieses Landes aufführen. Aber die gemeinsame höchste Entscheidungsinstanz, bis eine bessere und gerechtere gefunden wird, ist der Wille der Mehrheit der Nation. Schiedsrichter, Richter, Subjekt und Herr sind die Nation selbst.
Dafür muss zuerst ein organisches und gesundes demokratisches Umfeld entstehen, das alle Teile, Stimmen und Farben der Nation in den Prozess einbindet und jede Form von interventionistischer Fremdbestimmung durch die Reaktion der Nation wirkungslos macht. Es ist Aufgabe der Politik, dieses Umfeld vorzubereiten, in dem auch einfache Menschen ohne Angst vor Anklagen frei sprechen können – inklusive der staatlichen Eliten.
In diesem Zusammenhang wird der Normalisierungsprozess durch vertiefte demokratische Mechanismen und aktive Beteiligung erreicht werden. Das heißt, die endlosen Diskussionen zwischen Konfliktparteien oder Forderungen einer Seite an die andere und die autoritäre Haltung der Entscheidungsträger müssen überwunden werden. Es sollte ein dynamischer Gesprächs- und Dialograum geschaffen werden, in dem freie und gleichberechtigte Bürger die gemeinsame Zukunft diskutieren.
Natürlich wird es diejenigen geben, die eine solche Atmosphäre ausnutzen wollen. Doch alle einseitigen, engen, fruchtlosen, ausgrenzenden, spaltenden oder hassschürenden Elemente und Diskurse werden in einem solchen Umfeld von der Nation ausgegrenzt und auf natürliche Weise marginalisiert werden.
Das Regime ist nicht Eigentümer der Türkheit, der Laizität oder der Republik, genauso wenig wie der Religion, der Kurdischheit, der Alewitentum oder der Demokratie. Eigentümer ist allein das Volk selbst. Eigentum besteht ausschließlich in mehr Freiheit, und der vernünftigste Mittelwert kann nur auf demokratischem Weg erreicht werden. In diesem Zusammenhang gilt: Je mehr Elemente, Gruppen, Gemeinschaften, Glaubensrichtungen, Organisationen und vor allem Individuen sich freiwillig am Prozess beteiligen, desto gesündere Ergebnisse werden erzielt. Die einzige Rolle des Staates mit all seinen Institutionen und Einrichtungen in einem solchen Prozess besteht darin, eine objektive Kontrolle zu gewährleisten und die Sicherheit des Umfelds zu garantieren.
Ein solches Klima wird zudem auch die auf Ängsten basierenden Gegenängste hervorrufenden geschlossenen ethnischen, religiösen oder konfessionellen Zirkel, die als Reflex des Staates existieren, öffnen, entspannen und normalisieren. Tatsächlich wurden in den letzten zehn Jahren, in denen frei gesprochen werden konnte, viele Themen, die zuvor durch legale und illegale Repressionen Hunderttausende das Leben gekostet hatten, frei und offen zur Sprache gebracht. Dennoch gab es keine Entwicklung, die die früher von Staatsvertretern mit der Angst vor Laizität, Türkheit, Republik und dem Verlust des Vaterlands betriebenen Repressionspolitiken bestätigt hätte.
Im Gegenteil: Es wurde die tatsächliche Existenz vieler Gruppen, Organisationen und Gemeinschaften aufgedeckt und diskutiert, die in Opposition standen, sich in Opferpositionen befanden und mit ihren geschlossenen, introvertierten Strukturen zu nachgeahmten Formen des Staates geworden waren. Widerstand gegen Unterdrückung ist eine Tugend, aber es sollte auch eine Tugend sein, Menschen vor anderen, durch den Widerstand über die Zeit entstandenen subtilen Formen der Unterdrückung zu schützen. Diese Erkenntnis ist eine wichtige Erfahrung, um zu begreifen, dass mehr Freiheit kein Gnadenerweis oder eine Wahl ist, sondern eine notwendige ordnende Grundlage.
Die Türkei entwickelt sich umfassend durch Wandel und Transformation. Wohin dieser Prozess führt, wird sich durch einen gemeinsamen Weg zeigen, an dem alle beteiligt sind. Natürlich werden verschiedene Lösungswege und gemeinsame Ziele sowie Idealvorschläge der Gesellschaft vorgelegt, und die Gesellschaft wird daraus auswählen. Aber das Wesentliche ist, die Beteiligung aller an diesem Wandel zu gewährleisten, niemanden auszuschließen und auch niemandem zu erlauben, andere auszuschließen, um den Weg gemeinsam zu vollenden.
Deshalb ist es wichtig, Unterschiede oder unterschiedliche Stimmen – so abweichend sie auch erscheinen mögen – nicht auszuschließen, sondern in den Prozess einzubeziehen. Selbst die radikalsten oder extremsten Ideen – sofern sie nicht auf Zwietracht und Provokation abzielen, was von der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann – sollten die Möglichkeit haben, sich frei zu äußern, damit ein Mittelwert entstehen kann.
Normalisierung, Beteiligung und gemeinsamer Wandel: Darin liegen die Voraussetzungen, damit die Türkei die Ängste aus dem 20. Jahrhundert überwindet, einen gesunden Wandel erlebt und dauerhafte Entwicklungskräfte aktiviert. Wie wir das in welchem Rahmen erreichen können, wie wir darüber diskutieren können und auf welchen Grundlagen wir die Zukunft bauen können, können wir vielleicht aus unserer historischen Erfahrung beantworten. In diesem Zusammenhang kann uns die Erfahrung der Seldschuken vor dem Osmanischen Reich neue Horizonte eröffnen…
Erstveröffentlichung: haber10.com – 2014