Der Nahe Osten in Abwesenheit einer Hegemonialmacht
Der Nahe Osten ist historisch gesehen stets eine Region gewesen, die im Schatten der Großmächte geformt wurde. Von den Abbasiden über die Osmanen, von den europäischen Mandaten bis hin zum Kalten Krieg und schließlich zur unipolaren amerikanischen Vorherrschaft hing die Stabilität der Region in jeder Epoche unmittelbar von der Macht und den Absichten externer Akteure ab. Die Präsenz einer Hegemonialmacht brachte Ordnung und Abschreckung; ihr Rückzug oder ihre Schwächung führte hingegen meist zu innerer Fragmentierung, Stammeskonflikten und übergreifenden Krisen. Heute, da die USA von langfristigen Besetzungen und einer Politik des „Demokratie-Exports“ Abstand genommen haben und stattdessen einem selektiven, kosten–nutzen-orientierten Ansatz folgen, stellt sich erneut die Frage: Kann im Nahen Osten in Abwesenheit eines Hegemons Stabilität erreicht werden?
Hegemon und die Kontinuität der Ordnung
Die Schwächung des abbasidischen Kalifats ab dem 10. Jahrhundert stürzte die Region in die Rivalität von Emiraten und Dynastien. Die Eroberung Bagdads durch die Buyiden (945) oder die seldschukische Kontrolle reduzierten die Autorität des Kalifen auf eine bloße Symbolik. Dieses Machtvakuum führte insbesondere in den Grenzgebieten zu Instabilität. Mit der mongolischen Einnahme Bagdads im Jahr 1258 brach das Kalifat gänzlich zusammen; die Stadt wurde zerstört, und die Region versank für lange Zeit in Anarchie. Dies war eines der ersten Beispiele dafür, wie rasch die Region in Abwesenheit einer zentralen Macht ins Chaos abgleiten konnte.
Der Zerfall der Abbasiden schwächte die zentrale Autorität und löste Konkurrenzkämpfe von Dynastien und Emiraten aus, wodurch fragmentierte Strukturen entstanden. Ab dem 16. Jahrhundert übernahm das Osmanische Reich nach dem Sieg über die Mamluken die Kontrolle über die arabischen Gebiete. Mit seiner langfristigen politischen Ordnung, insbesondere in Syrien, Irak, Palästina und Hedschas, sorgte das Osmanische Reich für relative Stabilität. Die Balance zwischen lokaler Autonomie und zentraler Autorität machte die osmanische Epoche zu einer der längsten Stabilitätsphasen der Regionalgeschichte. Doch seit dem späten 19. Jahrhundert erschütterten der Aufstieg des Westens, das Erstarken nationalistischer Bewegungen und die Schwäche des Osmanischen Reiches diese Ordnung. Mit dem Rückzug der Osmanen führten das Sykes-Picot-Abkommen sowie die Aufteilung der Region zwischen Großbritannien und Frankreich zur Errichtung von Mandatsverwaltungen. Staaten wie Libanon, Syrien, Irak und Palästina entstanden auf brüchigen Grundlagen, sodass sie langfristig keine Stabilität sichern konnten. Während der Mandatszeit herrschte eine relative Ordnung; doch nach der Unabhängigkeit kam es vermehrt zu Bürgerkriegen und Konflikten – erneut in Verbindung mit der begrenzten Präsenz einer hegemonialen Macht.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts machte der Kalte Krieg die Region zum Schauplatz der Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Präsenz hegemonialer Mächte sorgte in dieser Phase dafür, dass Konflikte innerhalb bestimmter Grenzen blieben. Nach dem Kalten Krieg traten die USA als alleiniger Hegemon hervor; der Golfkrieg von 1991 und die Irak-Invasion von 2003 festigten diese Rolle. Doch die Kosten der Irak-Besetzung, die durch den Arabischen Frühling offengelegten gesellschaftlichen Bruchlinien sowie der Aufstieg Chinas und Russlands untergruben die absolute Dominanz Washingtons.
Die veränderte Präsenz der USA
Heute sind die USA im Nahen Osten weiterhin eine hegemoniale Macht, allerdings mit begrenztem, selektivem und transformiertem Charakter. Washington versucht nicht mehr, die Region durch Regimewechsel oder langfristige Besetzungen neu zu gestalten. Stattdessen konzentriert es sich auf eng gefasste Prioritäten: die Sicherheit der Seewege, das Eindämmen des iranischen Einflusses, den Schutz des Energieflusses und die Garantie für Israels Sicherheit.
Über dauerhafte militärische Stützpunkte wie die 5. Flotte in Bahrain oder die Al-Udeid Air Base in Katar verfügen die USA weiterhin über die Fähigkeit, die Region zu beeinflussen. Doch diese Fähigkeit dient heute weniger der direkten Umgestaltung als vielmehr der Funktion eines Stabilisators. Indem die USA kostenintensive Besetzungen vermeiden, reduzieren sie ihre eigene Belastung und übernehmen zugleich die Rolle eines Schiedsrichters oder Garanten, der den Rahmen für regionale Rivalitäten vorgibt.
Die begrenzte, aber entschlossene Präsenz der USA kommt den regionalen Mächten durchaus zugute. Denn ein vollständiger Rückzug der Hegemonialmacht würde den Wettbewerb in ein unkontrollierbares Chaos verwandeln. Heute behalten Saudi-Arabien, die VAE und Katar ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA bei, während sie zugleich mit China Infrastruktur- und Investitionsprojekte entwickeln und mit Russland Energiekooperationen eingehen. Diese multidimensionale Diplomatie ist gerade durch die begrenzte Präsenz der USA möglich. Ohne den von Washington gewährten Sicherheitsschirm wäre eine unbefangene wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China oder Russland kaum vorstellbar.
Auch für den Iran gilt ein ähnliches Paradox. Zwar versucht Teheran, seinen Einfluss in den Räumen auszudehnen, in denen sich die USA zurückziehen, doch ist man sich dort bewusst, dass sich die regionalen Gleichgewichte im völligen Fehlen eines Hegemons äußerst rasch verschieben würden. Für Israel wiederum ist die Präsenz der USA unverzichtbar: Sowohl die militärische Abschreckung als auch die diplomatische Legitimität stützen sich auf die Unterstützung Washingtons. Auch die Türkei nutzt als NATO-Mitglied die US-Präsenz nicht, um sie gänzlich zurückzuweisen, sondern um sie als ausgleichenden Faktor für ihre eigenen diplomatischen und militärischen Manöver einzusetzen.
Kurz gesagt: Die transformierte Präsenz der USA ermöglicht Wettbewerb, verhindert aber zugleich, dass dieser in einen zerstörerischen Krieg umschlägt. Daher wollen die regionalen Mächte keinen vollständigen Rückzug des Hegemons, sondern profitieren vielmehr von seiner selektiven Intervention. Die Deeskalation zwischen Israel und Iran ist hierfür das anschaulichste Beispiel. Und auch für die Eindämmung möglicher Spannungen zwischen Israel und der Türkei wäre eine solche hegemoniale Macht zweifellos notwendig.
In fragilen Staaten wie Jemen, Syrien, Libanon oder Libyen sorgt selbst eine begrenzte Präsenz der Hegemonialmacht noch für ein gewisses Maß an Ordnung. Ein vollständiger Rückzug der USA hingegen würde diese Länder dem Risiko aussetzen, in fragmentierte Autoritäten, Milizen und autonome Regionen zu zerfallen. Die regionale Ausgleichsfunktion Washingtons verhindert bislang eine solche vollständige Institutionalisierung der Zersplitterung.
Wie die Huthi-Angriffe im Roten Meer zeigen, sind US-geführte multilaterale Koalitionen nicht nur für die Region, sondern auch für den globalen Handel von entscheidender Bedeutung. Dies macht deutlich, dass der Hegemon nicht allein in sicherheitspolitischer, sondern ebenso in ökonomischer Hinsicht eine funktionale Rolle spielt.
Schlussfolgerung
Der Nahe Osten ist historisch in Abwesenheit einer Hegemonialmacht in Fragmentierung und Instabilität geraten. Heute übt die USA ihre hegemoniale Rolle nicht mehr durch einseitige Interventionen aus, sondern durch eine selektive und begrenzte Präsenz. Dieser Wandel reduziert einerseits die Kosten Washingtons, schafft aber andererseits ein funktionaleres Umfeld für die regionalen Mächte.
Von Saudi-Arabien bis zum Iran, von der Türkei bis zu Israel ermöglicht die Präsenz der USA allen Akteuren, ihre Rivalitäten innerhalb sicherer Grenzen auszutragen. Ein Chaos infolge eines vollständigen Rückzugs läge im Interesse keines dieser Staaten. Ein hegemonialfreier Nahe Osten entspricht weder den Interessen der regionalen Mächte noch denen der globalen Ordnung.
Was wir heute erleben, ist nicht die Abwesenheit eines Hegemons, sondern dessen transformierte und selektive Präsenz, die weiterhin die regionale Ordnung aufrechterhält. Die gegenwärtige Turbulenz ist somit weniger Ausdruck einer Welt ohne Hegemon, sondern vielmehr das Resultat seiner verengten Politikfelder. Die Dimension des möglichen Chaos, das durch einen kompletten Rückzug entstehen könnte, lässt sich nur auf diese Weise erahnen. Sowohl im Lichte der historischen Entwicklung als auch der gegenwärtigen Strukturen erscheint es daher wenig plausibel, dass im Nahen Osten ohne eine Hegemonialmacht Stabilität hergestellt werden könnte.