Der blinde Fleck der westlichen Medien: Warum Palästina unsichtbar bleibt

Der doppelte Standard in den Begriffen „Geisel“ und „Häftling“

Die Sprache der Medien beeinflusst maßgeblich, welchem Konfliktakteur Werte und Unschuld zugeschrieben werden. Wenn israelische Zivilisten oder Soldaten von palästinensischen bewaffneten Gruppen festgehalten werden, bezeichnet die westliche Presse sie fast ausnahmslos als „Geiseln“. Der Begriff „Geisel“ ruft Mitleid hervor, da er die Vorstellung von unschuldigen Menschen vermittelt, die illegal und gewaltsam verschleppt wurden. Dagegen werden die von Israel festgehaltenen Palästinenser meist als „Häftlinge“ oder „Gefangene“ bezeichnet – Begriffe, die den Eindruck eines rechtmäßigen Verfahrens oder einer legitimen Anklage erwecken. In Wirklichkeit jedoch wird ein Großteil der Tausenden Palästinenser in israelischen Gefängnissen ohne fairen Prozess, aufgrund administrativer Entscheidungen und unter dem Vorwand der „Sicherheit“ auf unbestimmte Zeit festgehalten.

Viele der von israelischen Behörden als „Häftlinge“ bezeichneten Palästinenser sind in Wahrheit politische Faustpfänder – sie werden de facto wie Geiseln behandelt. Doch diese Realität wird in der westlichen Berichterstattung kaum erwähnt: Der Begriff „Geisel“ wird für palästinensische Opfer nie verwendet. Diese sprachliche Doppelmoral lenkt die Wahrnehmung des Publikums dahin, wer als Opfer und wer als Täter gilt.

Ungleichgewicht in menschlichen Geschichten

Auch in der Auswahl und Darstellung menschlicher Schicksale zeigt sich ein massives Ungleichgewicht. Das Leid israelischer „Opfer“ (wobei schon die Frage, wer in Israel tatsächlich Zivilist und Opfer ist, umstritten bleibt) erhält in der westlichen Presse breiten Raum – emotional ausgeschmückt und mit persönlichen Details versehen. Das Leid der Palästinenser hingegen wird meist auf Zahlen und abstrakte Formulierungen reduziert.

So erscheinen in Berichten über Gefangenenaustausche oder Waffenruhen häufig Bilder der Wiedervereinigung israelischer Familien und ihrer Tränen der Freude auf den Titelseiten, während die Freilassung palästinensischer Gefangener – von denen viele jahrelang Folter in israelischen Gefängnissen erlitten haben – bewusst so dargestellt wird, dass sie keine emotionale oder politische Wirkung entfaltet. Damit wird das israelische Trauma mit Empathie versehen, während die palästinensischen Traumata, die ungerechten Haftzeiten und Misshandlungen verharmlost oder ganz verschwiegen werden.

Darüber hinaus bleiben die Szenen auf palästinensischer Seite – etwa wenn Mütter ihre befreiten Kinder in die Arme schließen oder Väter nach Jahren der Trennung ihre Freude zeigen – fast immer im Hintergrund. In den wenigen westlichen Berichten darüber werden meist nur Namen und Haftdauer erwähnt, jedoch nicht ihre individuellen Geschichten, Träume oder die erlittenen Ungerechtigkeiten. Damit wird nicht nur die persönliche Dimension ausgelöscht, sondern auch jeglicher Kontext – warum, durch wen und unter welchen Umständen diese Menschen eingesperrt waren – verschwiegen. So wird Israel entlastet, während die palästinensische Seite unsichtbar gemacht wird.

Das Ergebnis: Der durchschnittliche Medienkonsument im Westen kennt das Leid israelischer Familien sehr genau, kann sich aber kaum vorstellen, wie es ist, wenn eine palästinensische Mutter seit Jahrzehnten auf die Rückkehr ihres Sohnes aus dem Gefängnis wartet. Diese verzerrte Empathieverteilung prägt die öffentliche Wahrnehmung des Konflikts nachhaltig.

Das orientalistische Narrativ

Ein weiteres Problem liegt in der Art, wie die Medien Ereignisse aus ihrem historischen und politischen Kontext herauslösen. Besonders nach dem 7. Oktober 2023, als palästinensische Widerstandsgruppen die „Aksa-Flut“-Operation gegen Israel starteten, beginnt die westliche Berichterstattung die Geschichte fast ausschließlich mit diesem Datum – alles Vorhergehende wird ausgeblendet. So erscheinen die Palästinenser als Aggressoren, die „grundlos Gewalt anwenden“, während Israel als unschuldiger Staat dargestellt wird, der sich lediglich verteidigt.

Dieser Ansatz ignoriert völlig den jahrzehntelangen militärischen Besatzungszustand, die Blockade des Gazastreifens und die systematischen Menschenrechtsverletzungen durch illegale Siedlungen im Westjordanland. Ein großer Teil der westlichen Presse erwähnt diese Realitäten entweder gar nicht oder nur als Fußnote.

Diese Ausblendung entspricht einer orientalistischen Perspektive: Der „östliche“ (palästinensische) Akteur wird als irrational und von blinder Gewalt getrieben dargestellt, während der „westliche“ – oder den Westen vertretende – Akteur (Israel) als rational und verteidigungsberechtigt gilt. So vermittelt die Berichterstattung unterschwellig die Botschaft: „Die Gewalt begann ohne Grund, und Israel verteidigt sich nur.“

Dieses orientalistische Deutungsmuster führt dazu, dass jegliche palästinensische Handlung – ob gewaltfrei oder nicht – als Ausdruck von „Fanatismus“ interpretiert wird, während israelische Gewalt als legitime Selbstverteidigung gilt. Das verzerrt das Verständnis des internationalen Publikums und macht die strukturelle Gewalt, der Palästinenser ausgesetzt sind, unsichtbar.

Palästinensische Gefangene

Ein besonders klares Beispiel für sprachliche und kontextuelle Voreingenommenheit ist das Thema der palästinensischen Gefangenen in israelischen Haftanstalten. Derzeit werden Tausende Palästinenser in israelischen Gefängnissen festgehalten – viele von ihnen ohne Anklage oder Prozess, allein durch administrative Entscheidungen. Diese Praxis der „administrativen Haft“ erlaubt es Israel, Menschen über Monate oder Jahre einzusperren, ohne konkrete Vorwürfe zu erheben, oft auf Grundlage geheimer „Sicherheitsinformationen“.

Selbst friedliche Proteste gegen die Besatzung oder kritische Äußerungen in sozialen Medien können als „Sicherheitsbedrohung“ ausgelegt werden – und führen zur Inhaftierung. Unter den Gefangenen befinden sich Hunderte Kinder und Frauen. Kinder werden etwa wegen angeblichem Steinewerfens verhaftet, Ärztinnen und Ärzte, weil sie Verwundete behandelt haben. Internationale Menschenrechtsorganisationen – auch israelische wie B’Tselem – kritisieren diese Praxis als willkürlich und völkerrechtswidrig. Doch in der westlichen Presse findet sie kaum Erwähnung.

Wenn hingegen ein israelischer Soldat oder Zivilist entführt wird, dominieren die Schlagzeilen tagelang die Nachrichten, stets mit Verweis auf internationales Recht. Diese Doppelmoral zeigt unmissverständlich, wessen Leid als legitim gilt – und wessen nicht.

Darüber hinaus verweigert Israel den Familien vieler getöteter Palästinenser die Herausgabe der Leichname; Hunderte Körper werden bis heute von israelischen Behörden zurückgehalten. Dass eine derart gravierende Praxis in westlichen Medien nahezu nie thematisiert wird, verdeutlicht, wie stark die Nachrichtenfilter zugunsten Israels arbeiten. Wäre die Situation umgekehrt, fiele die mediale Empörung zweifellos weitaus heftiger aus.

Der 7. Oktober und der Gefangenenaustausch

Am 7. Oktober 2023 begannen palästinensische Widerstandsgruppen ihre als „Aksa-Flut“ bekannte Verteidigungsoffensive – ein Ereignis, das in der westlichen Presse überwiegend als „Terroranschlag“ bezeichnet wurde. Dass eine Operation gegen Zionisten, die auf besetztem palästinensischem Land leben und somit Teil der Besatzungsstruktur sind, auf diese Weise dargestellt wurde, zeigt, wie wenig die westlichen Medien die Motivation und die Resonanz innerhalb der palästinensischen Gesellschaft verstehen.

Einer der Hauptgründe für die Planung der Aksa-Flut war die Befreiung Tausender Palästinenser aus israelischen Gefängnissen. Die festgehaltenen israelischen Zivilisten und Soldaten dienten dabei als Druckmittel, um Israel zur Freilassung langjährig inhaftierter Palästinenser zu zwingen. Diese Strategie war teilweise erfolgreich: In den folgenden Waffenruhen und Gefangenenaustauschen nach dem 7. Oktober wurden Hunderte palästinensische Frauen, Kinder und Jugendliche freigelassen – viele von ihnen unschuldige Menschen, die Israel unter dem Vorwand der „Sicherheit“ über Jahre festgehalten hatte.

Auch wenn israelische Behörden diese Entwicklungen offiziell nicht als Zugeständnis anerkennen wollen, gelten sie in der palästinensischen Gesellschaft als bedeutender Erfolg. Die Geschichte zeigt, dass solche Taktiken Wirkung zeigen können: Bereits 2011 hatte Israel im Austausch gegen den Soldaten Gilad Shalit rund 1.000 palästinensische Gefangene freigelassen – darunter auch Persönlichkeiten wie Yahya Sinwar, die so ihre Freiheit wiedererlangten. Heute geschieht Vergleichbares, jedoch in noch größerem Umfang. Diese jüngsten Gefangenenaustausche markieren daher einen wichtigen Wendepunkt im palästinensischen Freiheitskampf.

Durch diese Verhandlungen konnten einige der systematisch inhaftierten Palästinenser ihre Freiheit nur deshalb wiedererlangen, weil israelische Staatsbürger als Faustpfand genommen wurden. Diese Tatsache verdeutlicht, wie unterschiedlich die Konfliktparteien die Legitimität ihrer Handlungen wahrnehmen: Was für die eine Seite als „Terrorakt“ gilt, erscheint für die andere als Widerstandsaktion zur Befreiung ihrer Gefangenen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ereignisse nach dem 7. Oktober 2023 gezeigt haben, wie dringend die westlichen Medien ihre Darstellungsweise des Konflikts überdenken müssen. Zahlreiche Journalistinnen und Journalisten großer Medienhäuser äußerten inzwischen Kritik an der israelfreundlichen Berichterstattung und fordern eine neutralere und humanere Berichterstattung.

Zudem verbreiten sich die von den Mainstream-Medien ausgeblendeten Realitäten zunehmend über soziale Medien und alternative Plattformen, wodurch insbesondere bei der jungen Generation das Mitgefühl für Palästina wächst. Diese Entwicklung macht deutlich, dass ein orientalistischer und einseitiger Journalismus auf Dauer nicht haltbar ist.

Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Gaza – die von vielen Beobachtern als Völkermord bezeichnet wird – ist es eine moralische Pflicht, das Leid der palästinensischen Opfer ebenso sichtbar zu machen wie das der israelischen. Die Art und Weise, wie die westlichen Medien Israels Vorgehen in Gaza darstellen, wirft nicht nur Fragen nach journalistischen Standards, sondern auch nach grundlegenden menschlichen Werten auf. Eine voreingenommene, israelfreundliche Berichterstattung verhindert eine informierte Öffentlichkeit und damit auch jede Grundlage für eine gerechte Friedensdiskussion.