Der Aufstieg spiritueller Strömungen

Im Laufe der Menschheitsgeschichte sind zahlreiche Denkrichtungen entstanden – einige blieben dauerhaft bestehen, andere verloren nach kurzer Zeit an Einfluss und verschwanden. Auch Religionen oder religiöse Traditionen lassen sich aus dieser Perspektive betrachten. Große Religionen wie das Judentum, das Christentum, der Buddhismus, der Hinduismus, der Shintoismus und der Islam gewannen im Laufe der Zeit an Stärke und verdrängten andere Strömungen in ihren jeweiligen Regionen. Sie ließen abweichende Inhalte im Schatten stehen und verhinderten deren Entfaltung, auch wenn sie gelegentlich aufkeimten.

So erklärte etwa der Katholizismus viele konkurrierende Glaubenssysteme für „häretisch“ oder „abzulehnen“ und verhinderte deren Ausbreitung. Ähnliches gilt für den Islam: In islamisch geprägten Gebieten traten im Laufe der Geschichte immer wieder verschiedene Glaubensgruppen auf. Einige existierten nur für kurze Zeit, andere überdauerten viele Jahre. Gemeinschaften, die beispielsweise Ali vergöttlichten, ihren Gründer als göttlich betrachteten oder ihm Eigenschaften wie die eines Mahdi, Messias oder Propheten zuschrieben, existierten zwar über längere Zeiträume – doch sie blieben unter dem Einfluss des Mainstreams meist schwach oder verschwanden ganz.

Wie der Historiker Ibn Khaldun sagte: Die Geschichte wiederholt sich. Auch heute entstehen neue Strömungen, die auf verschiedene Weise Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Durch die erleichterten Reisemöglichkeiten, die Verbreitung des Internets und den Einfluss der sozialen Medien kommen Menschen viel leichter mit unterschiedlichen Glaubens- und Denksystemen in Berührung. In diesem Zusammenhang ist sowohl das wachsende Interesse an atheistischen, deistischen oder agnostischen Sichtweisen – also an Vorstellungen, die sich von traditionellen Religionsbildern entfernen – als auch das Interesse an sogenannten alternativen Spiritualitäten zu betrachten.

Vor einigen Tagen rückte eine Fernsehsendung über eine vermisste Frau spirituelle Strömungen erneut ins öffentliche Bewusstsein. Es wurde behauptet, die Frau habe an bestimmten Ritualen eines solchen Glaubenssystems teilgenommen, verschiedene Wege ausprobiert, um mystische Erfahrungen zu machen, und sogar sogenannte psychedelische Substanzen zur Bewusstseinsveränderung konsumiert. Wer aufgrund dieser Nachricht etwas recherchierte, stieß auf eine geheimnisvolle und komplexe mystische Welt, die sich um spirituelle Bewegungen formiert, die als Alternativen zum Islam verstanden werden.

Diese Bewegungen, die fast alle von den mystischen Religionen des Fernen Ostens inspiriert sind, verbreiteten sich im Westen bereits vor Jahren und haben in jüngerer Zeit auch in unserem Land eine beachtliche Anhängerschaft gewonnen. Besonders Menschen, die in ihrer Kindheit keine tiefgehende religiöse Erziehung erhalten haben, aber gebildet und wohlhabend sind, wenden sich diesen Lehren zu – in der Annahme, sie seien elitärer, qualitätsvoller und im Prinzip tugendhafter.

Diese Situation wirft folgende Fragen auf: Was versprechen spirituelle Strömungen den Menschen? Warum wenden sich Gläubige, die an den ohnehin spirituell geprägten Islam glauben, diesen Bewegungen zu? Führen diese Strömungen den Menschen zu einem gottlosen, regelbefreiten Glauben?

Um spirituelle Strömungen zu verstehen, sollten wir mit dem Begriff „spirituell“ beginnen. In der religionspsychologischen Fachliteratur wird er meist mit „geistlich“ oder „spirituell“ übersetzt. Doch die heutigen spirituellen Bewegungen versprechen mehr als das, was wir in der islamischen Tradition als „spirituelle Tiefe“ kennen und erleben.

Sie streben danach, über den Alltag hinaus andere Bewusstseinsebenen zu erreichen, unsichtbare Welten zu erfahren und außergewöhnliche Erlebnisse zu machen. Diese Erfahrungen – darunter auch astrale Reisen, das Überschreiten von Raum und Zeit und Begegnungen mit anderen Wesen – bilden das Fundament ihrer Glaubenssysteme.

Natürlich wäre es eine ungerechte Vereinfachung, dies nur als Suche nach Abenteuer abzutun. Auch edle Motive wie Sinnsuche, Reinigung und Erhebung spielen eine Rolle. Dennoch scheint das Ziel, auf unkomplizierte Weise mystische Erfahrungen zu machen, oft im Vordergrund zu stehen.

Im Islam hingegen sind Tugenden wie auch mystische Erfahrungen nur durch einen langjährigen inneren Weg – den sogenannten seyr-i sülûk – zu erreichen, durch Gebet, Selbstzucht und spirituelle Disziplin. Das höchste Ziel ist die Erkenntnis Gottes (ma’rifatullah) und die Annäherung an Ihn.

Am Ende dieser Reise führt ein Mensch ein Leben in der Gemeinschaft, widmet sich der Vermittlung des islamischen Glaubens und lebt im Dienst für andere. In den spirituellen Bewegungen hingegen werden mystische Erfahrungen oft auf Abkürzungen reduziert – manchmal durch bewusstseinsverändernde Substanzen. Ziel und Inhalt unterscheiden sich, die Tiefe ist oft begrenzt und echte spirituelle Anleitung fehlt meist.

Bis hierher haben wir versucht, im Großen und Ganzen darzustellen, was spirituelle Bewegungen den Menschen versprechen. Es zeigt sich, dass diese Bewegungen sich als Antwort auf die spirituelle Leere präsentieren, die durch Materialismus, Verweltlichung und mangelnde Spiritualität im modernen Leben entstanden ist.

Der Mensch kann seiner Natur nach nicht ohne Spiritualität leben – dieses Bedürfnis zeigt sich in jeder Epoche in anderer Form. Wenn der positivistische Wissenschaftsansatz und die Konsumkultur den Menschen von seiner spirituellen Dimension trennen, wächst diese Krise und die Menschen begeben sich auf die Suche nach innerem Frieden und geistiger Ruhe. Manche wenden sich dabei wie in der Vergangenheit dem tief verwurzelten Sufismus zu, andere wiederum neuen, spirituellen Bewegungen.

In dieser Suche fällt besonders die Vorstellung von „verschiedenen Bewusstseinsebenen“ auf, die häufig in den Lehren der Sufis und anderer mystischer Traditionen erwähnt wird. Wenn solche Bewusstseinszustände erlebt werden, erscheinen sie der betroffenen Person oft realer als alles, was die materielle Welt zu bieten hat. Viele Menschen, die solche Erfahrungen machen, betonen ausdrücklich, dass es sich dabei nicht um Fantasie, Einbildung oder psychische Störungen handelt. Ein Mystiker fasste dieses Gefühl mit den Worten zusammen: „Wenn das, was ich erlebe, nicht real ist, dann ist im Leben gar nichts real.“

Menschen, die solche Erlebnisse im Rahmen spiritueller Strömungen machen, sind von deren Intensität tief beeindruckt und bleiben diesen alternativen Wegen häufig treu verbunden.

Doch stellen diese Bewegungen tatsächlich einen gottlosen Glauben dar?

So viel sei gesagt: Solche Bewusstseinszustände und mystischen Erfahrungen führen bei vielen Menschen dazu, atheistische oder deistische Überzeugungen zu hinterfragen. Nach außergewöhnlichen Erfahrungen ist es kaum vorstellbar, dass jemand weiterhin glaubt, wir seien zufällig auf die Welt gekommen und mit dem Tod sei alles vorbei. Doch gerade hier entsteht eine gewisse Verwirrung: Während einige durch diese Erfahrungen zum monotheistischen Glauben finden, wenden sich andere polytheistischen Weltbildern oder einer metaphysischen, aber gottlosen Realität zu.

Diese Tatsache verdeutlicht, wie offen und lenkbar mystische Erfahrungen inhaltlich sein können. Genau deshalb betont die sufische Tradition, dass solche Reisen nur unter der Anleitung eines erfahrenen Muršid (geistigen Lehrers) erfolgen sollten. Denn ohne ein solides Glaubensfundament können solche Erfahrungen den Menschen vom islamischen Glauben abbringen.

Sufis betrachten die spirituelle Begleitung durch einen vollendeten Lehrer sowie die Bindung an die Glaubenslehre der Ahl as-Sunna als eine Art „spirituelle Versicherung“, die sowohl die Richtung als auch den Inhalt solcher Erfahrungen absichern soll.

Warum suchen Muslime solche Erfahrungen außerhalb des Islams?

Eine der Antworten auf diese Frage liegt – wie bereits eingangs erwähnt – in der sozialen Prägung durch Internet und soziale Medien. Menschen sind heute mit nahezu jeder Entwicklung weltweit vertraut. Doch das Thema hat auch gesellschaftliche und institutionelle Dimensionen.

Wir müssen zugeben, dass die religiösen Menschen in unserem Land in den letzten Jahren stark an Glaubwürdigkeit verloren haben, wenn es um die Repräsentation von Religion und Moral geht. Zwar gibt es Gruppen, die gezielt an diesem negativen Bild arbeiten, doch es lässt sich nicht leugnen, dass viele Gläubige erhebliche Defizite bei der praktischen Umsetzung ihrer Religion aufweisen.

Zudem wird die mystische Dimension des Islams, die Spiritualität und Gefühl in reicher Weise enthält, von vielen Theologen inzwischen fast als Wahnsinn abgetan. In einer Art, die man fast als „positivistische Theologie“ bezeichnen könnte, werden die emotionale, spirituelle und mystische Seite der Religion vernachlässigt und abgelehnt. Viele heutige Theologen vertreten – zum Teil auch aus nachvollziehbaren Gründen – eine stark rationalistische Interpretation des Islams.

Dabei wird vergessen, dass die Offenbarung des Propheten Muhammad selbst ein zutiefst mystisches Erlebnis war. Stattdessen versucht man, ein wissenschaftlich-rationales Bild der Religion zu etablieren – eine wörtliche und buchzentrierte Vorstellung vom Islam.

Die spirituellen Bewegungen hingegen behaupten, dass Erfahrungen jenseits des Selbst keineswegs unwissenschaftlich seien, und weisen darauf hin, dass der positivistische Zwang den Menschen fesselt und in eine melancholische Leere führt.

Natürlich bleibt der Mainstream-Islam zahlenmäßig dominant und wird es auch weiterhin bleiben. Doch wenn der Islam nicht richtig repräsentiert wird, Kinder von klein auf keine fundierte religiöse Bildung erhalten und durch das Internet alle weltweiten Phänomene auch hier sichtbar werden, dann geraten viele, die innerlich eine Leere empfinden, in den Sog solcher Bewegungen.

Solange man das Thema nicht ganzheitlich betrachtet, werden spirituelle Strömungen – genauso wie Atheismus, Deismus, Agnostizismus oder LGBT-Bewegungen – weiterhin auch unter Muslimen Anhänger gewinnen. Auch wenn deren Zahl gering ist, bleibt die Tatsache bestehen: Jeder Mensch zählt – und für jeden tragen wir Verantwortung.

Gegen Ende des Textes haben wir bereits teilweise auf einige notwendige Maßnahmen hingewiesen, möchten diese nun jedoch konkret benennen:

Erstens muss die junge Generation von klein auf – sowohl in der Familie als auch durch religiöse Institutionen – mit authentischem religiösem Wissen vertraut gemacht werden.

Zweitens sollte dieses Wissen mit pädagogischer Sensibilität, mit einem besonderen Schwerpunkt auf die liebevolle Vermittlung und mit Feingefühl weitergegeben werden. Notwendig ist ein gut geplantes, methodisch gesundes Religionsunterrichtskonzept.

Drittens sollten sich Theologen stets bewusst machen, dass der Kern dieser Religion die Offenbarung ist – und dass Offenbarung eine mystische Erfahrung darstellt. Neben den Dimensionen von Wissen, Glauben, Moral und Gottesdienst müssen deshalb auch Spiritualität, Gefühl und persönliche Erfahrung berücksichtigt werden.

Zum Abschluss möchten wir noch auf einen weiteren wichtigen Punkt hinweisen:

Wie das Sprichwort sagt: „Salz löst sich im Wasser auf, doch Kieselsteine nicht“ – ebenso darf man bei der Betonung von Erziehung und Bildung nicht die persönliche Entscheidungsfreiheit und Verantwortung des Einzelnen aus dem Blick verlieren.

Jede falsche Orientierung hat zwar äußere Ursachen, doch oft noch stärkere innere: die eigene psychologische und geistige Substanz. Der Mensch ist immer in der Lage zu erkennen, ob etwas richtig oder falsch ist – und sich nach dieser Erkenntnis entsprechend zu verhalten.

Als freies, entscheidungsfähiges Wesen darf der Mensch seine Verantwortung niemals vergessen. Er sollte sich selbst bilden, seinen Charakter stärken. Familie, Gesellschaft und letztlich auch der Staat sollten ihn auf diesem Weg unterstützen.

Vesselam. („So viel dazu. Friede sei mit euch.“)