Den Keloğlan Töten!

Ein Geplanter Mord: Den Keloğlan Töten

Keloğlan ist eine naive, liebenswerte, kluge und sympathische Märchenfigur. Er ist ein Volksheld, der unter verschiedenen Namen in der türkischen Welt weit verbreitet ist.

Doch er ist kein außergewöhnlicher Held mit Superkräften, sondern gehört zum einfachen Volk – einer, der sich an einem bescheidenen Tisch mit Brot und Tarhana-Suppe satt isst. Eine seiner größten Stärken ist es, Glück und Scharfsinn meisterhaft zu nutzen, um Hindernisse zu überwinden – und wenn nötig, auch mit Tricks und List zu arbeiten.

In den meisten Märchen ist Keloğlan arm und kahlköpfig, doch am Ende heiratet er entweder die Tochter des Sultans oder wird Wesir. Manchmal bekommt er sogar goldene Haare. Letztendlich überwindet er viele Herausforderungen und gleicht seine Mängel aus, indem er sich einer Autorität oder Macht anschließt. Genau das ist sein Ziel: das Höchste zu erreichen…

Sein kleines Dorf oder seine Kleinstadt, seine Mutter, die ihn unter großen Mühen großgezogen hat, sein Feld, das ihm gerade genug zu essen gibt, oder ein Mädchen aus der Nachbarschaft – all das wird ihn nicht glücklich machen. Auch etwas bessere Lebensbedingungen werden ihn nicht zufriedenstellen. Sein Blick gilt nur dem Allerreichsten, dem Mächtigsten, dem Schönsten…

Keloğlan, der als Repräsentant des Volkes vor der Macht steht, wird erst dann vollständig, wenn er – metaphorisch gesprochen – den Gipfel des mythischen Kaf-Berges erreicht. Der kahlköpfige und arme Junge wird für seine Träume kämpfen. Nur die absolute Spitze wird ihn glücklich machen. Um dorthin zu gelangen, wird er List und Tricks einsetzen, seine Intelligenz, seine charmanten Worte und sein Glück so geschickt wie möglich nutzen.

Ach, dieses unermüdliche Verlangen nach der Königstochter oder dem Feenprinz, diese Sehnsucht nach goldenen Haaren, einem Palast oder wenigstens einem Wesirsposten! Dieses ewige Gefühl der Unvollständigkeit, das einen plagt, solange man all das nicht besitzt! Und dann… wenn er es endlich erreicht hat, bleibt doch stets ein nagendes Gefühl der Unzulänglichkeit. Denn die goldenen Haare, die Seidengewänder und der Thron sind nur geliehen – sie gehören nicht wirklich ihm. Er ist nicht er selbst, sondern nur eine Kopie dessen, was er sein wollte. Er ist ein “Wie”.

Bekanntlich sind Märchen sowohl universell als auch lokal – sie spiegeln die Kultur ihres Ursprungs wider. Diese Geschichte von Keloğlan ist nicht nur ein Sinnbild für all jene, die einen hohen Rang, Macht, Reichtum oder Ruhm erreichen, sondern auch eine Erzählung über all jene, die vom Westen als “die Anderen” betrachtet werden.

Viele Throne und Machtpositionen sind mit solchen Keloğlans besetzt. Viele von ihnen füllen ihre Bäuche an prunkvollen Tafeln, als wollten sie die bescheidenen Mahlzeiten ihrer Vergangenheit vergessen. Doch selbst mit einem goldenen Löffel in der Hand und goldenen Haaren auf dem Kopf bleiben sie immer Keloğlan. Sie können nie wirklich aufhören, Keloğlan zu sein.

Bereits vor der Tanzimat-Zeit im Osmanischen Reich gab es eine Elite, die sich dem Rest der Gesellschaft überlegen fühlte. Mit der Republik übernahm eine andere Gruppe genau diese elitäre Denkweise. Doch in Wahrheit steckt in allen von ihnen die Psychologie von Keloğlan. Unter dem Deckmantel der Modernisierung entstand ein Heer von Keloğlans. Dieser krankhafte Zustand hält bis heute an…

Diese grotesken Eliten, die mit einer orientalischen Mentalität den Westen bewundern, sich selbst für minderwertig halten und die Armen, die Bauern und die Religiösen als rückständig betrachten… Und dann jene Armen, Bauern und Religiösen, die diese Eliten wiederum als überlegen ansehen. Niemand ist mit sich selbst zufrieden! Die meisten ahmen andere nach, versuchen, jemand anderes zu sein. Und der Arme, der Bauer oder der Religiöse, der endlich zu goldenen Haaren kommt, wird am Ende den abstoßenden Eliten ähneln, gegen die er einst rebellierte.

Das ist jedoch kein rein türkisches Phänomen! Wenn wir das Bild vergrößern, erscheint eine noch bedrohlichere Szenerie.

Viele Gesellschaften außerhalb der USA und Europas sind in gewisser Weise auch Keloğlans – immer bewundernd, immer nachahmend. Manche dieser “Anderen” verehren gerade jene arrogante Autorität, die sie verachtet und herabsetzt – den „Vater“, den sie zu besänftigen versuchen. Um Lob von ihm zu bekommen oder ihm ähnlicher zu werden, verleugnen sie ihr eigenes Land, ihre Speisen, ihre Kleidung, ihre Literatur, ihr Kino, ihre Musik – kurz gesagt, ihre gesamte Kultur und alle Werte, die sie ausmachen. Einige treiben es so weit, dass sie sich vor dieser großen Autorität, ihrem vermeintlichen „Vater“, immer weiter beugen und verkleinern. Vielleicht, nur vielleicht, gibt ihnen dieser „Herr“ dann ein kleines Leckerli als Belohnung – wenn er es denn für angemessen hält.

Was also tun?

Wir müssen einen Mord begehen – mit Vorsatz, bewusst und gezielt. Wir müssen den Keloğlan in uns töten. Denn solange wir nicht mit der größten Entschlossenheit sagen: “Weder den Sultan noch seine Tochter wollen wir!”, werden wir diese Keloğlan-Haltung nicht loswerden.

Wir müssen endlich akzeptieren: Unser erster Schritt war falsch gesetzt, und egal, was wir tun, es wird so nicht funktionieren.

Wir werden das sein, was wir sind, und uns dessen nicht schämen. Wir werden stolz auf unseren Glauben und unsere Menschlichkeit sein. Und dieses Recht, stolz zu sein, werden wir uns selbst geben. Wir werden es nicht von denen einfordern, die sich nur wegen ihrer westlichen, mächtigen, modernen und wohlhabenden Herkunft für überlegen halten.

Die beste Lösung? Uns selbst nicht verleugnen.

Wenn wir in die Falle tappen und den Indianer als Wilden, den Afrikaner als Kannibalen, den Muslim als Fanatiker abstempeln lassen, dann werden wir noch viele Jahrhunderte als Keloğlan weiterleben. Wenn wir mit der Psychologie des Orients weitermachen, werden wir nie von der Krankheit loskommen, uns immer minderwertig zu fühlen und diejenigen zu imitieren, die wir für überlegen halten. Der Irrglaube, unsere Mängel durch eine Heirat mit der Tochter des Sultans auszugleichen, die Unfähigkeit, sich selbst zu lieben, das Defizit an Selbstbewusstsein – all das wird uns langsam zerstören.

Zuerst müssen wir lernen, uns selbst zu lieben. Wir dürfen nicht von den Beifallsklatschern, dem Lob und der Anerkennung anderer träumen. Wir dürfen keine Bettler nach Bestätigung sein. Stattdessen werden wir hart arbeiten, produzieren und auf das stolz sein, was wir selbst erschaffen.

Der Keloğlan in uns muss sterben – und nur als eine lehrreiche Märchenfigur in Erinnerung bleiben. Es gibt keinen anderen Weg!