Seit Beginn des Völkermords in Gaza sind fast 20 Monate vergangen. Meine Familie und ich wurden mehrfach aus unserem Zuhause im Flüchtlingslager Dschabaliya vertrieben – doch diesmal war es anders. Zum ersten Mal mussten wir den Norden verlassen und in den Süden fliehen, nach Deir al-Balah, von wo ich euch jetzt schreibe.
In Dschabaliya war ein Leben nicht mehr möglich. Die ständige Vertreibung hat uns unsere Gesundheit und unser Geld genommen und uns in eine demütigende Realität gezwungen: Aus einer stolzen Familie wurden wir Menschen, die ums Überleben kämpfen. Mitte Mai, während der vierten Bodenoffensive Israels auf Dschabaliya, wurden wir nach Süden gedrängt. Als Vorbereitung auf die Invasion bombardierte die israelische Armee Dschabaliya aus der Luft, zerstörte Gebäude, machte alles dem Erdboden gleich. Die Soldaten rückten von Norden und Osten vor – jeden Tag ein Stück näher.
Ich begann, im Westen von Gaza-Stadt nach einer Wohnung zu suchen – irgendwo, wo es etwas sicherer war und wir ein Dach über dem Kopf finden konnten. Am 20. Mai, auf dem Rückweg von einer dieser verzweifelten Suchaktionen, rief mich mein Vater in Panik an: Eine israelische Quadcopter-Drohne habe unser Haus im westlichen Dschabaliya unter Beschuss genommen. Uns lief die Zeit davon. Wir mussten fliehen.
Wir beschlossen, die Nacht im ausgebrannten Haus meines Bruders im Zentrum Dschabaliyas zu verbringen. Am nächsten Morgen wollten wir weiter. Doch in dieser Nacht öffnete sich die Hölle unter uns.
Keine zwei Stunden nach unserer Ankunft hörten wir draußen jemanden schreien: „Leute des Viertels! Die Armee wird bombardieren! Sofort evakuieren!“ Meine Beine begannen zu zittern. Keine zehn Sekunden später wurde das Nachbarhaus getroffen. Es fühlte sich an, als wäre der Tag des Jüngsten Gerichts gekommen – und als ob das nächste Ziel das Haus meines Bruders sein würde.
In Panik schnappte ich ein paar Habseligkeiten meiner Mutter, nahm meine fünfjährige Nichte Deema auf den Arm und rannte die Treppen hinunter.
Im Erdgeschoss fand ich meine Mutter, eine Frau in ihren Sechzigern, zwischen Trümmern, wie sie verzweifelt versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Sie konnte kaum noch stehen, und in der völligen Dunkelheit sah sie nichts. Ich nahm ihre Hand, hob die Taschen auf, Deema immer noch auf dem Arm – und wir flohen ins Ungewisse.
Wir liefen einfach los, ohne zu wissen wohin. Blind. Im Schock konnten wir einander kaum hören. Wenn jemand etwas sagte, antwortete der andere etwas ganz anderes. Ich war stumm – konnte nicht sprechen, nicht denken.
Irgendwann erreichten wir das Haus meines Cousins in der Al-Jalaa-Straße im Westen von Gaza-Stadt. Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben. Ich weiß nicht, wie meine Mutter den ganzen Weg gegangen ist. Ich weiß nicht, wie Deema, während ich sie und die Taschen trug, auf meiner Schulter eingeschlafen ist.
Am nächsten Morgen kehrten wir nach Hause zurück – die Armee zieht sich tagsüber manchmal etwas zurück. Diese kurze Gelegenheit nutzten wir, um aus unseren Häusern im westlichen und zentralen Dschabaliya ein paar Habseligkeiten zu holen und uns auf den Weg nach Deir al-Balah zu machen.
Nur zwei Jahre vor dem Krieg hatte mein Vater das Haus gebaut, das wir nun zurückließen. Er war gerade als Lehrer in den Ruhestand gegangen und hatte seine gesamten Ersparnisse in ein mehrstöckiges Haus investiert – mit je 180 Quadratmeter großen Wohnungen für jedes seiner sieben Kinder. Mein Bruder hatte auch Grundstücke in der Nähe für seine Kinder gekauft. Ein Hauch von Stabilität, ein Fünkchen Hoffnung auf Zukunft war entstanden. Der Völkermord hat all das zunichtegemacht.
Jedes Mal, wenn Israel eine neue Evakuierung anordnete, mussten wir alles hinter uns lassen. Und trotzdem fanden wir irgendwie immer einen Weg zurück. Seit Kriegsbeginn konnten wir insgesamt nur etwa zwei Monate in unserem neuen Zuhause verbringen – dann wurden wir erneut vertrieben. Wir hatten keine Gelegenheit, das Haus zu genießen oder seine Schönheit überhaupt wahrzunehmen.
Bei jeder neuen Vertreibung sagte mein Vater fast mechanisch denselben Satz:
„Wohin sollen wir gehen? Ich fühle, wie meine Seele meinen Körper verlässt. Ich habe einen stechenden Schmerz im Magen.“
Eine noch grausamere und zerstörerischere Nakba
Heute erleben wir das, was mein Großvater 1948 bei der ersten Nakba durchmachte. Damals verlor er seinen 75-Dunum-Weinberg im Dorf Barbara, etwa 17 Kilometer nordwestlich von Gaza-Stadt, nahe dem heutigen israelischen Aschkelon.
Im Oktober 2024, während der dritten Invasion in Dschabaliya, starb mein Großvater, während unser Haus von israelischen Truppen belagert wurde. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich dramatisch, weil es kaum Nahrung und Wasser gab – mit jeder Bodenoffensive verschlimmerte sich alles.
Am Abend des 7. Oktober 2024 starb er nach einem Luftangriff, der erschreckend nah einschlug. Die israelischen Streitkräfte waren nur wenige Meter von unserem Haus entfernt. Weil der Friedhof belagert wurde, mussten wir ihn im Garten unseres Hauses begraben. Nur Stunden später flohen wir vor Panzern und Bulldozern nach Gaza-Stadt.
Die vierte Invasion Dschabaliyas begann am 15. Mai – dem 77. Jahrestag der Nakba. Was wir heute erleben, ist noch erbarmungsloser und zerstörerischer als 1948. Seitdem hat Israel jede Generation der Palästinenser gezwungen, die Nakba aufs Neue zu durchleben – ein Leben in Frieden war uns nie vergönnt.
Ich bin jetzt zum zweiten Mal Flüchtling – zuerst aus unserem historischen Dorf Barbara, nun aus Dschabaliya, wo die nächsten Generationen meiner Familie geboren wurden. Alles, was meinem Großvater gehörte, wurde zerstört. Und wir, seine Enkel, sind zu Nichts geworden. Seit der ersten Nakba haben wir versucht, unser Leben von Grund auf neu aufzubauen – und Israel hat alles zerstört. Sie nehmen, wir verlieren.
Ich versuche, nicht daran zu zerbrechen. Ich versuche, den Verlust unseres großen Hauses zu verdrängen – das Haus, in dem mein Vater meine Hochzeit vorbereiten wollte. Ich bemühe mich, an eine bessere Zukunft zu glauben. Ich will das Glas halb voll sehen, das Leben als Reise betrachten. Doch seit ich 2022 in Spanien gelebt habe, weiß ich: Ein Mensch ohne Heimat ist nichts wert.
Neben meinen spanischen Kommilitonen fühlte ich mich minderwertig – sie hatten ein Zuhause, einen Ort, der sie schützte. Sie konnten überallhin reisen. Sie lebten weit entfernt von einer Besatzung, die unser Leben bis zur täglichen Kalorienaufnahme kontrolliert.
Aus den Tiefen der Hölle
Wenn die israelische Armee uns vertreiben will, erlässt sie etwas, das sie „Evakuierungsbefehl“ nennt. Damit versucht sie, wie eine Armee zu wirken, die im Einklang mit dem Völkerrecht kämpft, zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheidet und keine Absicht hat, Kindern zu schaden. Doch das ist weit von der Realität entfernt.
Wie in Rafah oder Schudschaiyya begann Israel viele Besetzungen und Belagerungen, bevor es überhaupt diese angeblichen Evakuierungsbefehle veröffentlichte. Diese Invasionen zwingen Menschen dazu, unter schwerem Bombardement in sogenannte „sichere Zonen“ zu fliehen. Viele müssen sich durch Checkpoints schleppen, die sie nur mit dem Nötigsten passieren können – ohne Lebensmittel, ohne Ausweise, ohne eine Decke für die Nacht. Die Flugblätter, die das Militär auf die Zivilbevölkerung abwirft, enthalten oft furchterregende Drohungen, die psychologische Kriegsführung darstellen. Und selbst diese „sicheren Zonen“ werden später bombardiert.
Wer das Elend der Vertriebenen in Gaza gesehen hat, erkennt sofort, dass das israelische Militär sich nicht im Geringsten für das Schicksal der Zivilbevölkerung interessiert. Sie sagen nur: „Flieht, rennt!“ – ohne sich darum zu kümmern, wo die Menschen bleiben, was sie essen oder wie sie überleben sollen. Israel versucht, zwei Millionen Palästinenser in einen winzigen Streifen im Süden zu drängen – in Zeltlager ohne Infrastruktur, wo Abwasserflüsse unter den Füßen durch die Lager strömen. Der Plan: Die Stadtteile zur „Kriegszone“ erklären, die Menschen vertreiben, alles zerstören – damit auch eine spätere Rückkehr unmöglich wird.
Israel will nur Zerstörung und Ruinen – um Land zu erobern, um irgendwann Siedlungen zu errichten. Wenn Menschen oft genug vertrieben wurden, brechen sie innerlich. Und genau darauf zielt man ab: dass sie irgendwann eine sogenannte „freiwillige“ Auswanderung akzeptieren.
Während des gesamten Krieges bin ich nie in den Süden geflohen. Ich wollte in der Nähe meines Hauses bleiben, um zurückkehren zu können, sobald sich das Militär zurückzieht. Ich habe diesen Entschluss mit Hunger und Verletzungen bezahlt. Doch jetzt bin ich zum ersten Mal in Deir al-Balah, vertrieben – ich wohne bei meiner Tante. Zum ersten Mal seit etwa 15 Jahren bin ich wieder hier, seit ich neun oder zehn Jahre alt war und sie zuletzt besucht habe.
Ich weiß nicht, wie lange sie uns aufnehmen kann. Ich weiß nicht, wohin wir gehen sollen, wenn wir von hier wieder fortmüssen. Ich rede mir ein, dass ich meine Tante nur besuche – nach all der Zeit. Oder dass ich mich an einem fernen Ort der Welt zur Ruhe gesetzt habe. Oder einfach, dass ich im Urlaub bin – nur um nicht an dem Herzschmerz zu sterben, den wir mit dem, was wir zurückgelassen haben, jeden Tag spüren.
Die Nacht, in der wir aus Dschabaliya flohen, war nicht die schlimmste oder heftigste Nacht des Krieges. Es war eine gewöhnliche Nacht aus den Tiefen der Hölle – wie jede andere zuvor. Aber diesmal hatten wir keine Wahl. Seit Beginn des Völkermords haben wir keine einzige Nacht in Ruhe schlafen können. Die dunklen Ringe unter meinen Augen beweisen das. Und doch weigere ich mich, das als normal zu akzeptieren. Ich habe mich nicht an den Schmerz gewöhnt. Bevor ich sterbe, will ich nur eine einzige Nacht in Frieden schlafen.
Quelle: https://www.dropsitenews.com/p/nakba-gaza-displaced-jabaliya