Bestimmen immer die äußeren Kräfte alles?

Beim Versuch, die Weltpolitik zu verstehen, begegnet man in vielen Ländern immer wieder demselben Satz: „Die USA, der Westen kontrolliert alles.“ Mal hört man ihn in Gesprächen auf der Straße, mal in Universitätsdebatten, mal in Erklärungen von Politikerinnen und Politikern. Zahlreiche gesellschaftliche Gruppen – einschließlich intellektueller Kreise – greifen insbesondere dann auf diesen vereinfachenden Deutungsrahmen zurück, wenn sie die Probleme ihres eigenen Landes erklären wollen. So verführerisch solche Behauptungen auch sind, sie spiegeln nur einen kleinen Teil der Realität wider. Der Einfluss externer Kräfte ist zweifellos vorhanden. Doch zu glauben, dass sie allein alles bestimmen, deutet sowohl politisch als auch psychologisch und gesellschaftlich auf ein tieferes Missverständnis hin.

Globale Macht und der Mythos der absoluten Kontrolle

Niemand bestreitet, dass die USA ein mächtiger Akteur im internationalen System sind. Ihre wirtschaftliche Stärke, ihre Finanznetzwerke, ihre militärische Technologie und ihre Tech-Giganten setzen in vielen Bereichen Standards. Daher ist „Einfluss“ durchaus real. Doch „Einfluss“ mit „totaler Kontrolle“ gleichzusetzen, passt nicht zu den komplexen Strukturen der heutigen Welt.

Im 21. Jahrhundert ist Macht fragmentiert. Der Aufstieg Chinas, das wirtschaftliche Gewicht der Europäischen Union, das demografische und technologische Potenzial Indiens und das zunehmende Profil regionaler Mächte wie der Türkei haben das globale Spielfeld deutlich multipolarer gemacht. Kein Land kann seine Interessen überall und jederzeit widerspruchslos durchsetzen. Lokale Machtgleichgewichte, gesellschaftliche Reaktionen und innere Dynamiken bleiben stets entscheidend.

Auch strukturelle Faktoren begrenzen globale Macht. Das internationale System ist zu vielschichtig, als dass ein einzelner Akteur absolute Vorherrschaft erlangen könnte. Wirtschaftliche Beziehungen erzeugen gegenseitige Abhängigkeiten. Eine vollständige Manipulation von Handels-, Energie- oder Finanznetzwerken würde auch für den manipulierenden Staat hohe Kosten verursachen. Militärische Macht wiederum ist in ihrer Fähigkeit, langfristige politische Ergebnisse zu produzieren, begrenzt. Eine Region zu besetzen oder Druck auszuüben ist möglich – doch dauerhafte politische Transformationen sind meist unmöglich. Jede geopolitische Intervention bringt wirtschaftliche, diplomatische und gesellschaftliche Folgen mit sich und ist nur begrenzt aufrechtzuerhalten.

Deshalb können selbst Großmächte in Regionen, deren innere Dynamiken Widerstand leisten, ihren Einfluss nur eingeschränkt ausüben.

Externe Kräfte sind wichtig – aber bestimmen sie wirklich alles?

Externe Akteure in den internationalen Beziehungen völlig zu ignorieren, wäre unrealistisch. Außenpolitische Schritte von Staaten und regionale Rivalitäten können die Innenpolitik beeinflussen. Doch wenn wir dem Einfluss äußerer Kräfte übermäßige Bedeutung beimessen, hören wir auf, unsere eigenen gesellschaftlichen Strukturen und inneren Realitäten zu analysieren.

Was die Orientierung eines Landes am stärksten prägt, sind nicht äußere Zwänge, sondern:

  • gesellschaftliche Struktur

  • wirtschaftliche Balance

  • kulturelle Muster

  • institutionelle Kapazitäten

  • politische Reife der Bürgerinnen und Bürger

  • historisches Gedächtnis

Externe Kräfte wirken nur in dem Maße, wie sie im Inneren Resonanz finden.

Viele Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit belegen dies. Während des Arabischen Frühlings wurde viel über die Rolle äußerer Akteure diskutiert. Doch die Massenproteste wurden in erster Linie durch innere Probleme ausgelöst: wirtschaftliche Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Korruption und politische Repression.

Die linken Bewegungen in Lateinamerika entstanden nicht aufgrund der Präferenzen externer Mächte, sondern durch regionale Ungleichheiten und den Druck lokaler sozialer Organisationen. Auch der Aufstieg nationalistischer Strömungen in Europa ist weniger auf äußere Pläne zurückzuführen als auf die Folgen der Globalisierung, Migrationspolitik und die Sorgen der schrumpfenden Mittelschicht.

Diese Beispiele zeigen: Trotz äußerer Einflüsse entsteht der eigentliche Antrieb häufig im Inneren.

Warum ist der Glaube an „allmächtige äußere Kräfte“ so weit verbreitet?

Die Vorstellung, dass äußere Kräfte alles bestimmen, ist historisch, soziologisch und medial bedingt weit verbreitet. In vielen Ländern bilden vergangene Militärputsche, Wirtschaftskrisen, Geheimdienstoperationen sowie Erinnerungen an koloniale oder imperialistische Zeiten einen Nährboden für Misstrauen gegenüber externen Akteuren. Historische Traumata prägen das kollektive Bewusstsein und führen dazu, dass aktuelle Ereignisse schnell als „die Außenmächte sind wieder am Werk“ interpretiert werden.

Hinzu kommt, dass das heutige Informationsökosystem diese Wahrnehmung weiter verstärkt. Soziale Medien verbreiten unbestätigte Informationen und überzogene Behauptungen in rasanter Geschwindigkeit. Komplexe politische oder wirtschaftliche Probleme lassen sich über „einfache Erklärungen“ leichter deuten. Die Vorstellung geheimer Pläne äußerer Mächte bietet eine schnelle, eingängige und attraktive Erzählung.

Unbestätigte Meldungen, die beispielsweise über Twitter oder TikTok kursieren, beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung oft unabhängig von realen Ereignissen. Ein weiterer Grund liegt in den strukturellen Merkmalen politischer Kulturen: In Ländern mit schwachen demokratischen Institutionen, intransparenten Entscheidungsprozessen und stark polarisierten Medien fällt es den Menschen schwer, dem eigenen Staat zu vertrauen. Ein solches Vertrauensdefizit verstärkt wiederum den Glauben an eine allumfassende äußere Kontrolle.

Gleichzeitig existieren reale globale Machtasymmetrien. Die wirtschaftliche und militärische Stärke der USA, der EU oder anderer Großmächte erzeugt bei vielen den Eindruck nahezu unbegrenzter Einflussmöglichkeiten. Doch Einfluss bedeutet nicht totale Bestimmung. Die Vereinigten Staaten konnten beispielsweise trotz ihrer erheblichen militärischen Präsenz in Syrien die politischen Entwicklungen dort nicht vollständig nach ihren Vorstellungen lenken – ein deutliches Beispiel für die Grenzen asymmetrischer Macht.

Wenn all diese Faktoren zusammenwirken, entsteht schnell eine übersteigerte Wahrnehmung äußerer Einflussnahme. Diese Wahrnehmung ist nicht völlig unbegründet, doch die Realität ist weit komplexer, vielschichtiger und von einer Vielzahl lokaler und globaler Akteure geprägt. Die Macht ausschließlich im Außen zu suchen bedeutet, die eigene politische und gesellschaftliche Handlungskraft sowie die Dynamiken innerhalb eines Landes zu unterschätzen.

Innere Dynamiken, die Wahrnehmung äußerer Mächte und die Frage gesellschaftlicher Handlungsmacht

Warum also ignorieren Menschen häufig die inneren Dynamiken und messen äußeren Kräften eine so große Bedeutung bei? Dieser Blickwinkel schafft psychologisch eine Art Komfortzone. Die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme nach außen zu verlagern, entlastet Individuen wie auch politische Akteure von ihren eigenen Pflichten. Wenn ein Land wirtschaftliche Schwierigkeiten durchlebt, die Demokratie schwach ist oder Institutionen nicht funktionieren, lässt sich all dies mit der Aussage „wegen der äußeren Mächte“ schnell und bequem erklären. Dadurch entfällt die Notwendigkeit zur Selbstkritik, die Verantwortung, Institutionen zu reformieren, verschwindet, politische Akteure geraten aus der Pflicht und gesellschaftliche Forderungen nach Veränderung werden aufgeschoben.

Eine weitere Folge dieser Wahrnehmung zeigt sich im politischen Bereich. Ständige Verweise auf äußere Kräfte bieten eine Möglichkeit, Verantwortung abzuschieben und Misserfolge zu legitimieren. Wenn jedes Problem mit dem „Spiel der ausländischen Mächte“ erklärt wird, schwächt dies die Rechenschaftspflicht und macht die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen kaum noch überprüfbar. So lässt sich etwa die Qualität des Bildungssystems leicht mit „internationalem Druck“ rechtfertigen – und dabei bleiben sowohl die Versäumnisse der Lehrkräfte als auch Schwächen der Bildungspolitik unsichtbar. Wirtschaftskrisen über „ausländische Interventionen“ zu erklären, erleichtert es ebenfalls, finanz- und strukturpolitische Entscheidungen nicht hinterfragen zu müssen. Ebenso führt die Zuschreibung politischer Entscheidungen an äußere Einflüsse dazu, dass die kritischen Stimmen der Bürgerinnen und Bürger leiser werden und gesellschaftliche Organisation geschwächt wird.

Alles durch äußere Kräfte zu erklären, nährt zudem unbewusst eine weitere Gefahr: den Verlust des Glaubens daran, dass eine Gesellschaft ihr eigenes Schicksal gestalten kann. Je stärker sich die Vorstellung durchsetzt, „dass andere uns ohnehin regieren“, desto mehr schwindet das Vertrauen in die eigene politische Handlungsfähigkeit. Dies reduziert demokratische Teilhabe, schwächt die Hoffnung auf Veränderung und mindert die gesellschaftliche Energie. Wenn etwa wirtschaftliche Krisen oder soziale Ungleichheiten ständig äußeren Akteuren zugeschrieben werden, sinkt die Motivation der Bürgerinnen und Bürger, eigene Lösungen zu entwickeln. Ebenso verhindert die Erklärung politischer Misserfolge durch äußere Interventionen eine kritische Bewertung staatlicher Institutionen und schwächt die gesellschaftliche Kontrolle.

Obwohl die Rede von äußeren Kräften anfangs psychologisch entlastend wirken kann, erzeugt sie langfristig einen Kreislauf, der gesellschaftliche Verantwortung und politische Beteiligung untergräbt. Diese Wahrnehmung schwächt die Fähigkeit, sowohl individuell als auch kollektiv als handelndes Subjekt aufzutreten. Die eigentliche Lösung besteht darin, diesen Kreislauf zu erkennen und Probleme anhand der inneren strukturellen und institutionellen Defizite zu analysieren. Strukturelle Stärkung in Bereichen wie Bildung, Medien, staatlichen Institutionen und gesellschaftlicher Organisation erhöht die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, ihre eigene politische und soziale Handlungsmacht zu nutzen. Dadurch verringert sich die Abhängigkeit von äußeren Einflüssen, und die gesellschaftliche Willenskraft sowie die Fähigkeit zur Selbstgestaltung werden gestärkt.

Eine Welt mit vielen Akteuren und vielen Ebenen

Die internationalen Beziehungen der Gegenwart sind kein Spiel, das von einem einzigen Zentrum gesteuert wird. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes und vielschichtiges System, in dem sich Staaten, multinationale Unternehmen, internationale Organisationen, gesellschaftliche Bewegungen und regionale Machtkonstellationen überschneiden. Die Theorie der internationalen Beziehungen beschreibt solche Systeme als „multi-aktor“ und „multi-level“: Macht entsteht nicht nur aus militärischen oder wirtschaftlichen Kapazitäten, sondern wird ebenso durch kulturelle Interaktionen, institutionelle Leistungsfähigkeit und die Organisationsformen von Gesellschaften geprägt. Deshalb kann kein Akteur allein über absolute Kontrolle verfügen; jeder Schritt wird durch die Reaktionen und Gegenstrategien anderer Akteure begrenzt.

Konkrete Beispiele verdeutlichen diese Dynamik. Während externe Akteure im Arabischen Frühling durchaus Einfluss ausübten, waren die eigentlichen Triebkräfte, die Millionen Menschen auf die Straßen brachten, die wirtschaftliche Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und politische Repression innerhalb der jeweiligen Länder. Auch beim Brexit mag es Versuche externer Einflussnahme gegeben haben. Doch ausschlaggebend waren vor allem lokale wirtschaftliche Sorgen, die Migrationspolitik und die politische Polarisierung. Die linken Bewegungswellen in Lateinamerika lassen sich ebenfalls nicht allein durch äußere Interventionen erklären; sie entstanden im Zusammenspiel von Einkommensungleichheit, gesellschaftlicher Mobilisierung und den Forderungen der Bevölkerung.

Die von der Türkei eingeleiteten Friedens- und Lösungsprozesse zur Bewältigung ihres eigenen Terrorproblems waren ebenfalls keine von außen gesteuerten Initiativen. Sie entstanden aus der eigenen politischen Willensbildung, aus gesellschaftlichen Erwartungen und aus den Einschätzungen des staatlichen Entscheidungsapparats. Ebenso entspricht die Behauptung, der syrische Aufstand sei von westlichen Akteuren organisiert worden, nicht den historischen Fakten. Der Aufstand wurde in erster Linie durch die Reaktion der syrischen Bevölkerung auf langjährige politische Unterdrückung, wirtschaftliche Armut und eine tiefe Repräsentationskrise ausgelöst. Solche reduktionistischen Erklärungen übersehen sowohl die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit als auch die Komplexität politischer Prozesse und verengen diese auf ein einziges äußeres Zentrum – was die analytische Tiefe erheblich mindert.

Vor diesem Hintergrund ist es analytisch unzureichend und gesellschaftlich herabsetzend, das Schicksal eines Landes allein durch die Wirkung eines einzigen äußeren Akteurs erklären zu wollen. Externe Kräfte können Einfluss haben. Doch dieser Einfluss hängt fast immer von den inneren Bedingungen eines Landes ab. Wirtschaftliche Verwundbarkeiten, institutionelle Kapazitäten, gesellschaftliche Organisation, kulturelle Codes und politisches Bewusstsein bestimmen Ausmaß und Richtung externer Einwirkungen. Daher ist das internationale System ein Gefüge mit vielen Akteuren – und die entscheidende Kraft, welche die Zukunft einer Gesellschaft formt, ist letztlich die Stärke ihrer eigenen inneren Dynamiken und ihres kollektiven Willens.