Auf der Spur der Seinsfrage: Eine Reise zu Heideggers Hütte
Die Reise zu Heideggers Hütte ist das elfte Buch der Reihe „Bibliothek von İbrahim Kalın“, das im September 2025 bei İnsan Yayınları erschienen ist. Die Idee zu diesem Werk entstand mit dem Besuch des Autors im Jahr 2019 in der Hütte am Hang des Schwarzwaldes, wohin Heidegger sich zur Einkehr zurückgezogen hatte. Das Buch erzählt von der gedanklichen Reise des Autors, die sich aus diesem Besuch heraus entfaltet. Kalın betont, dass sein Weg zu der Hütte nicht dem Wunsch entsprang, einem Geheimnis nachzujagen, sondern seinem Interesse an Heideggers Denken und der langjährigen Verbindung, die er durch die in seinem Geist stets mit sich getragene Seinsfrage aufgebaut hat.
Als ich begann, das Buch zu lesen, ertappte ich mich dabei, auf Karten nach der Lage dieser Hütte zu suchen. Wo genau lag Todtnauberg, an was für einem Hang stand die Hütte, und was sah man aus ihrem Fenster? Während ich weiterlas, bemerkte ich, dass sich meine anfängliche Neugier nicht nur auf den Ort selbst richtete, sondern auf die Dinge als solche. Vielleicht war der Wunsch, die Hütte wie einen Gegenstand zu betrachten, ihren Standort, ihre Form und ihre Details zu kennen, ein kleiner Hinweis darauf, dass wir das Sein, von dem Heidegger spricht, oft über sichtbare Dinge zu begreifen versuchen. Genau an diesem Punkt setzt Kalın sein Buch an: Er verbindet die Neugier auf eine konkrete Hütte mit der Hinwendung des Menschen zu seinem eigenen Denken.
Das Buch besteht aus insgesamt neun Kapiteln. Während die ersten Kapitel um Eindrücke von der Hütte und die Seinsfrage kreisen, treten in den späteren Abschnitten Themen wie die Grenzen des technischen Denkens, die Entfremdung des modernen Menschen von der natürlichen Nähe zur Welt, die Weisen des Sich-Entbergens der Wahrheit, das poetische Wohnen und der Anthropozentrismus deutlicher hervor. Weitere Begriffe, die das Sein betreffen, bilden den Hintergrund jedes Kapitels. Die Darstellung des Autors gewinnt an Tiefe, indem er Begriffe über ihre Herkunft erklärt, mit Beispielen veranschaulicht und in verschiedenen Kontexten neu fasst. Rückgriffe auf bestimmte Konzepte sind für Heidegger-Leser nicht überraschend; für weniger geübte Leser philosophischer Texte hingegen bieten diese Wiederholungen einen Vorteil. Das Buch zielt weniger darauf ab, Heideggers Denken systematisch zu erklären, sondern vielmehr darauf, zu zeigen, wie Kalın seine eigene gedankliche Reise gestaltet. Die Abkehr von einer rein systematischen Darstellung wirkt auf den Leser nicht übermäßig theoretisch.
Dass der Autor Heidegger wählt, um die Frage nach dem Sein zu behandeln, ist keineswegs zufällig. Heidegger ist eine derjenigen Figuren, die am umfassendsten dargelegt haben, wie die Moderne den Menschen von der Wahrheit des Seins entfernt. In seinem Denken sind Sein, Raum, Ortsgefühl, Wohnen, Technik, Wahrheit und Dichtung keine voneinander getrennten Themen, sondern miteinander verbundene Begriffe, um das Sein überhaupt verstehen zu können. Kalın hebt besonders hervor, wie die vom modernen Menschen geprägte Lebensform – bestimmt von Geschwindigkeit, Technik und Berechnung – die Beziehung zum Sein zunehmend schwächt. Beim Fortschreiten der Kapitel erinnert er durch Verweise auf Molla Sadrâ, Ibn Sînâ, die sufische Denkweise und die türkische Dichtungstradition daran, wie die Seinsfrage im östlichen Denken verhandelt wurde, und zeigt, dass ontologische Diskussionen keineswegs auf den Westen beschränkt sind.
Einen wichtigen Platz im Buch nimmt die Einschätzung ein, dass das moderne, auf Vernunft, Wissenschaft, Fortschritt und Technologie gegründete Zivilisationsverständnis in Heideggers Denken den Zugang zur Offenheit des Seins versperrt. Kalın erinnert an Heideggers bekannte Aussage: „Nur ein Gott kann uns retten.“ Für Heidegger ist die Moderne geprägt davon, dass der Mensch sich in das Zentrum der Welt stellt und alles in ein berechenbares, planbares und kontrollierbares Objekt verwandelt. Während Kalın den Hintergrund dieser Aussage entfaltet, diskutiert er, wie Technik zu einer Weltanschauung geworden ist und wie eine alles zur Ware machende Perspektive sowohl die Welt als auch den Menschen selbst verzehrt. In diesem Zusammenhang geht Kalın auch auf die berechtigten Diskussionen um Heideggers politische Haltung ein. Die antisemitischen Passagen in den Schwarzen Heften und seine politischen Entscheidungen werden als schwerwiegende Probleme angesehen, die das gesamte Denken des Philosophen überschatten. Dass Kalın diese Diskussion nicht ignoriert, sie aber auch nicht zu einem Punkt überhöht, der das Denken insgesamt entwertet, zeigt seinen vorsichtigen, zugleich offenen Umgang mit dem Thema. Er betont, dass Heideggers politisch problematische Haltung dessen Seinsdenken, Technik-Kritik und Wahrheitsverständnis zwar nicht ungültig macht, uns aber dazu verpflichtet, diese Gedanken mit Achtsamkeit zu lesen.
Kalın erörtert, wie das berechnende und utilitaristische Funktionieren der modernen Vernunft den Menschen und die Dinge verarmt. Diese Überlegungen rufen mir das hastige Aufspringen beim morgendlichen Weckerton und das Sich-Abmühen hinter den Zielen des Tages in Erinnerung. Die Handlungen, die wir zum Leben ausführen, können das Leben selbst unsichtbar machen. Der Autor interpretiert den Begriff murakabe im Sinne der sufischen Tradition als eine innere Wachheit, eine Aufmerksamkeit und eine Hinwendung zur Wahrheit. Die Verbindung, die er zwischen diesem Begriff und Heideggers Seinsverständnis herstellt, gehört zu den originelleren Aspekten des Buches. Ibn Sînâs Natur- und Heilauffassung, Hölderlins poetisches Denken und der Begriff ilmelyakîn werden als einander ergänzende Beispiele ausführlich behandelt.
Je weiter das Buch voranschreitet, desto deutlicher wird die Diskussion über die Moderne mit der Stellung des Menschen auf der Erde, also seiner Weise des Wohnens, verknüpft. Kalın eröffnet diesen Abschnitt mit Heideggers Hölderlin-Wort: „Unser Wohnen auf dieser Erde ist poetisch.“ Dabei reduziert er den Raum nicht auf ein bloßes Bedürfnis nach Unterkunft, sondern versteht ihn als eine Offenheit, in der das Sein sich dem Menschen zeigen kann. Beim Lesen wird auch verständlicher, wie ein Raum zu einem besonderen Ort wird: Nicht seine Lage oder seine physischen Eigenschaften machen ihn bedeutsam, sondern seine Fähigkeit, eine Offenheit zwischen Mensch und Sein zu ermöglichen. Im Buch wird der rechte Maßstab des Menschen nicht aus ihm selbst hergeleitet, sondern als Ergebnis der Beziehung zu Ort und Zeit, zu Tod und Transzendenz verstanden. Der Abschnitt über die Wahrheit bildet den philosophisch dichtesten Teil des Werkes. Kalın erklärt, dass Wahrheit seit Platon auf Richtigkeit und Übereinstimmung beschränkt worden sei und dass dadurch die ursprüngliche Bedeutung des Entbergens in Vergessenheit geraten sei. Begriffe wie Aletheia, Öffnung, Sichtbarwerden und Zuhur veranschaulichen die Beziehung der Wahrheit zum Sein.
Im Kapitel „Der Anthropozentrismus oder die Tragödie des Humanismus“ wird dargelegt, wie der moderne Humanismus den Menschen in das Zentrum der Welt gestellt und dadurch entwurzelt hat. Heidegger sieht den Menschen nicht als Herrn des Denkens, sondern als Zeugen der Entbergung des Seins. Kalın betont, dass der Wunsch des Menschen, die Welt nach den Maßstäben seines eigenen Geistes neu zu errichten, sowohl die Welt als auch ihn selbst erschöpft. Unter Bezugnahme auf Heraklit macht er zudem deutlich, dass die Wahrheit nichts ist, was in der Ferne gesucht werden müsste, sondern nur durch einen sorgsamen und angemessenen Blick wahrgenommen werden kann. Die Wahrheit befindet sich im Alltag; sichtbar wird sie jedoch erst, wenn der Mensch aufhört, sich selbst in das Zentrum zu stellen. In diesem Zusammenhang erläutert Kalın anhand von Heideggers Begriffen die Beziehung zwischen der Maßlosigkeit, die der Humanismus hervorgebracht hat, und der Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Seinsbereich. Während er davon spricht, dass Wahrheit im Alltag aufgefunden werden könne, erwähnt Kalın Ara Gülers Entdeckung der antiken Stadt Aphrodisias, die mit dem Anblick der Säulen in einem Dorfkaffee begann. Beim Lesen dieser Zeilen frage auch ich mich, welche antiken Städte uns wohl noch umgeben, ohne dass unser Blick sie wahrnimmt.
Die Reise zu Heideggers Hütte zeigt, wie die auf Geschwindigkeit, Technik und Berechnung gegründete Struktur der modernen Welt das Sein unsichtbar macht, und gleichzeitig öffnet sie eine Tür zum Denken des Seins. Kalın deutet die Hütte als räumliches Gegenbild zu Heideggers Seinsfrage. Er führt den Leser zum Denken selbst hin. Die Begegnungen von Sadrâ bis Heidegger erinnern daran, wie verschiedene Horizonte nebeneinander bestehen können. Die bewusste Abkehr des Autors von jeder Systematisierung entspringt seinem Bemühen, die Lebendigkeit des Seins nicht in objektive Begriffe einzusperren. So entsteht ein Buch, das weniger endgültige Urteile präsentiert als vielmehr die Reise selbst als eine Weise des Denkens hervorhebt. Das Buch hinterlässt keine fertigen Antworten, sondern einen Ruf, unser Verhältnis zur Welt neu zu bedenken. Deshalb blieb mir nach dem Schließen des Buches von jener Reise zur Hütte nicht eine akademische Diskussion, sondern der Wunsch, das Sein neu zu entdecken. Möge es viele Leser finden.